Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Statt Krieg drohen Hunger und Kälte

Die Angst vor einer russischen Invasion hat in der Ukraine nachgelassen. Dafür bahnt sich eine soziale und politische Katastrophe an. In der EU wird das jedoch ignoriert.

Gastbeitrag von Günter Verheugen

In diesen Tagen hält das Drama um Griechenland Europa in Atem. Die Flüchtlinge, die in wachsender Zahl aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten in die EU drängen, vermitteln eine beklemmende Vorahnung von dem, was noch auf uns zukommen wird. Währenddessen wächst jedoch in der direkten Nachbarschaft eine neue Gefahr heran - eine schwere humanitäre Krise in der Ukraine.

Bisher betrachten die EU-Europäer und die Vereinigten Staaten die Ukraine immer noch in erster Linie als Ableitung der Ost-West-Beziehungen. Die Ukrainer dagegen sehen die sich zuspitzende Lage in der Ukraine selbst vor allem als Angelegenheit der Ukraine. Das aufgeregte Gerede über eine bevorstehende russische Invasion hat nachgelassen, es herrscht ein brüchiger Waffenstillstand, groß angelegte militärische Operationen finden nicht statt - also überlässt man die Ukraine sich selber, wie schon seit fast 25 Jahren. Und gibt ihr Geld.

Die Ruhe ist trügerisch. In der ukrainischen Bevölkerung wachsen Enttäuschung aber auch Wut über die politischen Verhältnisse, die sich seit der Maidan-Revolution nicht verbessert haben. Das Ansehen der Regierung ist so gering, dass es kaum noch ins Gewicht fällt. Die Popularität von Präsident Petro Poroschenko ist höher, aber auch nicht hoch, die im "Rechten Sektor" und der "Radikalen Partei" versammelten extrem nationalistischen Kräfte schüren Hass und Unruhe.

Im kommenden Winter ohne Strom und Heizung

Die Ukraine balanciert am Rande des Staatsbankrotts, die Wirtschaft befindet sich in freiem Fall, die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordniveau. Besserung ist nicht in Sicht - wer investiert schon unter den gegebenen Umständen in der Ukraine? Die Exporte sinken auf allen verbliebenen Märkten rasant. Wenn heute die EU anstelle Russlands der größte Handelspartner der Ukraine ist, so liegt das nicht an einem gesunden Wachstum der Handelsströme, sondern daran, dass östliche Märkte für die Ukraine noch stärker eingebrochen sind als der EU-Markt.

Mit Beginn des Winters wird die schleichende Krise in eine neue Qualität um-schlagen. Schon im März stellte die Internationale Energieagentur (IEA) eine Energiekrise in beispielloser Größenordnung fest. Vor wenigen Tagen äußerte sich der ukrainische Regierungschef Arsenij Jazenjuk ähnlich dramatisch. Die stabile Versorgung mit Strom und Heizung im kommenden Winter ist nicht mehr gesichert. Das gilt für die meisten Landesteile. Hinzu kommt, dass in einigen Gebieten die Wasserversorgung nicht mehr funktioniert. Alle Ingredienzien für eine schwere soziale Krise sind vorhanden, und die wird nicht ohne politische Folgen bleiben.

Was also tut EU-Europa angesichts dieser Lage? Die Antwort: Business as usual. Das ist kurzsichtig und gefährlich. Die EU hat sich sehr beeilt, nach dem Sturz von Viktor Janukowitsch die Assoziierung der Ukraine unter Dach und Fach zu bringen. Die strategischen Erwägungen waren so dominierend, dass sich offenbar niemand gefragt hat, ob ein bereits Ende 2011 zu Ende verhandeltes Abkommen den Bedingungen des Jahres 2014 überhaupt noch entspricht.

Das Assoziierungsabkommen ist schon vom Umfang her furchterregend. Mehr als 1000 Seiten, die außer Experten keiner kennt. Es geht weiter als alle bisherigen Assoziierungsverträge der EU und erlegt der Ukraine ein Reformprogramm auf, das die Versäumnisse der Transformation seit Staatsgründung innerhalb weniger Jahre ausgleichen soll. Das Abkommen folgt strikt der ökonomischen Doktrin in der EU: Übernahme des Gemeinschaftsrechts, radikale Privatisierung, marktgerechte Preise. Ganz unschuldig bezeichnete die EU-Kommission 2009 die auf die Ukraine zukommenden "Anpassungs"-Kosten als "extensiv", eine genaue Schätzung gibt es weder in Brüssel noch in Kiew.

Es gibt auch keine Prioritäten. Alles soll möglichst gleichzeitig geschehen. Wie der ukrainische Staatsapparat das bewerkstelligen soll, dem die zu übernehmenden Rechtsakte und Vorschriften noch nicht einmal in eigener Sprache zur Verfügung stehen? Keiner weiß es. Was man aber weiß, ist, dass Energiepreise nicht mehr subventioniert werden dürfen. Langfristig ist dies sicher erstrebenswert, in der jetzigen Lage aber ein geradezu explosives Unterfangen.

Inzwischen sind Unternehmen und Bürger mit monatlich steigenden Gaspreisen konfrontiert. Alternative Anbieter oder Wettbewerb? Gibt es nicht. Privatisierung in einem Umfeld, in dem die Korruption die Norm und der Kampf um das nächste große Stück vom Kuchen in vollem Gange ist - man kann sich das Ergebnis vorstellen.

Unverantwortliche Passivität

Unter günstigen Bedingungen - Frieden, innere Stabilität, einigermaßen funktionierende Verwaltung - wird die Assoziierung langfristig zu Wohlstandsgewinnen für die Ukraine führen. Kurzfristig liegen aber auch die ökonomischen Vorteile sehr einseitig bei der EU. Bezeichnend ist, dass für landwirtschaftliche Rohstoffe und Lebensmittel, wo die Ukraine ein großes Exportpotenzial hat, noch für lange Zeit weitreichende Handelsbeschränkungen in Kraft bleiben.

Aber das alles erfasst noch nicht die politische Dimension der Verantwortung, die die EU mit der Assoziierung der Ukraine übernommen hat. Es ist schon seltsam genug, dass die Assoziierung der Ukraine den Totalumbau des Landes verlangt, ohne auch nur die Möglichkeit eines Beitritts irgendwann in Aussicht zu stellen. Noch seltsamer ist allerdings, dass man die Ukraine damit allein lässt. Gewiss, es gibt in Brüssel ein 30-köpfiges Unterstützungsteam und das ist mehr, als für Georgien und Moldawien zur Verfügung stand, aber die angebotene Hilfe ist rein technischer Natur.

Es ist jetzt zwingend, der Ukraine die notwendige politische Aufmerksamkeit zu widmen - über den in Minsk ausgehandelten Waffenstillstand hinaus. Es muss politisch darüber geredet werden, wie die Menschen in der Ukraine über den nächsten Winter kommen sollen. Dabei wird man Russland einbeziehen müssen. Es ist Sommerpause in Brüssel und kein Krisentreffen angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe in Sicht - nirgendwo schrillen Alarmglocken.

Diese Passivität ist unverantwortlich. Wir haben die Assoziierung unbedingt gewollt. Ich wage zu bezweifeln, dass die Akteure auf europäischer Seite genau wussten, was sie taten (Hat überhaupt jemand den vollständigen Text des Abkommens gekannt?), aber das ist nur noch von historischem Interesse.

Die EU steht in der Verantwortung für die Zukunft der Ukraine. Sie sollte sich da-rüber klar werden, was das konkret bedeutet, bevor sich der Himmel über Kiew wieder verdunkelt vor lauter einfliegenden Solidaritätsbekundern und Krisenentschärfern.

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Quelle:
SZ vom 07.08.2015
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