Außenansicht:Warum wir Integration auf Zeit brauchen

Programm 'Wirtschaft integriert' für Flüchtling

Ein junger Syrer stellt sich seinen Klassenkameaden vor.

(Foto: dpa)

Das Ziel von Integrationspolitik ist die Angleichung der Migranten. Das ist fragwürdig und oft nicht nötig: Viele wollen gar nicht langfristig bleiben.

Gastbeitrag von Jürgen Wertheimer

Messerattacke in einem Regionalzug, Sprengstoffanschläge in der Provinz, Dönermesser und Macheten . . . Das macht Angst und das wirkt auf den Umgang der Gesellschaft mit Flüchtlingen zurück. Noch ein, zwei Attacken, und die öffentliche Meinung kippt. Wenn dann die Mächtigen beim obligatorischen ökumenischen Trauergottesdienst mit gesenkten Häuptern dastehen und die europäischen Werte beschwören, wirkt das nur noch wie maskierte Hilflosigkeit.

Zugegeben, die Lage ist kompliziert und durch Präsident Erdoğans trickreiche Volten noch viel komplizierter geworden. Ganz abgesehen davon, dass sich in Westafrika eine weitere Flüchtlingswelle aufbauen könnte, die alles Bisherige übertreffen würde. Die italienische Tageszeitung Il Giornale spricht von einem "Exodus biblischen Ausmaßes" und beschwört damit diffuse Angst herauf. In Anbetracht dieser Realitäten mutet unsere Angst so ohnmächtig an, wie es unsere gemeinschaftlichen Durchhalterituale sind.

Mit unseren Werten können wir kaum noch überzeugen

Unsere Werte sind relativ geworden und stehen allenfalls noch auf ökonomischen Beinen. Sie überzeugen nur noch sehr wenige und sie wirken offenbar von außen betrachtet alles andere als inspirierend. Freiheit, schön und gut. Jeder kann so rumlaufen, wie er will, und fast alles sagen, was ihm in den Sinn kommt. Und wir kämpfen dafür, dass auch unsere Gegner zu Wort kommen. Aber glaubt man allen Ernstes, dass diese selbst für uns etwas verwaschen wirkende freiheitliche Doktrin bei Menschen zündet, die weitgehend in clanartigen und patriarchalisch geprägten Verhältnissen aufgewachsen sind, und die gelernt haben, Relativismus als Schwäche, Ambivalenz als Unsicherheit zu deuten?

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Jürgen Wertheimer, 68, ist Professor für Internatinale Literaturen und Neue Deutsche Literatur an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen.

(Foto: x)

Glaubt man wirklich, dass man mit Integrationskursen und ein wenig Landeskunde an diese eigentlich entscheidende Zone herankommt? Vertraut man immer noch darauf, dass mit ein bisschen Vertrauen und gutem Willen kulturelle Prägungen und Signaturen, die in Jahrhunderten gewachsen sind und sich tief in das Unterbewusste eingegraben haben, korrigiert werden können? Dass es tatsächlich so etwas wie ein universelles Weltethos gibt? Keiner glaubt daran. Aber fast alle haben sich darauf verständigt, so zu tun als ob.

Und hier liegt eine Ursache unseres neuen interkulturellen Verständigungsproblems. Die Ursachen reichen weit zurück. Möglicherweise bis ins Dritte Reich, als der Kulturbegriff so sehr und so nachhaltig pervertiert wurde, dass man auch Jahrzehnte später noch Scheu hat, damit in Kontakt zu geraten. Jeder, der es wagt, von kulturellen Eigenarten zu sprechen, wird ins "essentialistische" Lager gesteckt. Aber die Welt besteht nicht aus mental geklonten Bewerbungsbogen-Lebewesen. Sie setzt sich aus - horribile dictu - lauter extrem unterschiedlichen Parallelwelten zusammen. Das ist nicht ideal, aber passabel.

Man negiert nicht ohne Spätfolgen wesentliche Teile der eigenen Biografie

Probleme entstehen immer dann, wenn eine Kultur sich aus welchen Gründen auch immer zum Maß der Dinge erklärt. Der Integrationsprozess ist, ob man es wahrhaben will oder nicht, solch ein Normierungsvorgang, der ein Ziel und ein Versprechen beinhaltet. Das Versprechen der Verwandlung und das Ziel der Angleichung. Beide sind in sich fragwürdig: Man negiert nicht ohne Spätfolgen wesentliche Teile seiner Biografie. Und man sollte sich nie der Illusion hingeben, Unterschiede wären zu ignorieren.

Und all dies unter Druck, auf die Schnelle - im Zeitraffer, mit Menschen, die noch gar nicht recht angekommen sind. Die aber unabweisbar in Bewegung geraten sind, auf absehbare Zeit in Bewegung bleiben werden und auch durch Zäune und Mauern allenfalls umgelenkt, nicht aber gestoppt werden können. Was also tun?

Nicht alle Flüchtlinge wollen langfristig in Deutschland bleiben

Das Integrationsmodell wird allenfalls für einen relativ überschaubaren Teil der Betroffenen sinnvoll und relevant sein. Für die überwiegende Mehrheit der Migrierenden könnte es die falsche Option sein. Sie brauchen möglicherweise nur Sicherheit, Stabilität, ein akzeptables Dasein, Beschäftigung und Arbeit auf Zeit. Bis sie selbst wissen, ob und wohin ihre Reise gehen soll. Vielleicht zurück in die unter großem Druck verlassene Heimat. Zwei, drei Jahre, möglicherweise auch fünf, die man aber nicht stillgestellt in Lagern vertun sollte.

Kreativität ist gefragt, nicht Mitleid, Aktivität, nicht Nachsicht. Mit den alten Mitteln - Integration oder Rückführung - ist die Situation nicht zu meistern. Es muss über dritte Wege jenseits dieser beiden ausgetretenen Pfade nachgedacht werden.

Manche umkreisen ihr Heimatland bereits und sitzen mental auf gepackten Koffern. Den riskanten Vorgang ihres Zurückkehrens kann man psychisch, physisch und materiell begleiten. Für andere ist die Rückkehr angesichts der Realität in ihren Ländern noch reine Utopie. Aber auch sie haben nicht die Absicht, hier Wurzeln zu schlagen. Was spricht dagegen, kleine temporäre Siedlungen zu errichten, in denen Eigenverantwortlichkeit, nicht Überwachung und Betreuung gefragt ist.

Wir brauchen Integrationsmodelle auf Zeit

Selbst in Deutschland gibt es Regionen, die einen Zuwachs aktiver Leute mit neuen Ideen gut brauchen können. Im 17. Jahrhundert, als nahezu eine halbe Million andersgläubige Hugenotten nach Deutschland flüchteten, entdeckten einige Landesherren diese Menschen als Ressource und siedelten sie dort an, wo man sie brauchen konnte und wo sie weiterhin in ihrer Sprache und nach ihren Regeln verkehrten.

In einer Periode, die sich damit schmückt, global zu denken, sollte auch über transnationale Zwischenlösungen nachgedacht werden. Von Menschen, die im Stau der Migration stecken, kann man keine Eindeutigkeit verlangen. Vieles ist angedacht, die Gefühle hinken voraus oder hinterher, alles formiert sich neu, Unerwartetes geschieht. Solche Städte auf Zeit - in Europa oder Nordafrika - könnten geradezu als Laboratorien wirken, um sowohl uns, als auch die Migranten fit für eine noch unbekannte Zukunft oder sogar für die Rückeroberung der notgedrungen verlassenen Regionen zu machen.

Sie körperlich und mental widerstandsfähig zu machen. Widerstandsfähige Personen haben gelernt oder lernen, dass sie selbst es sind, die über ihr Schicksal bestimmen. Sie vertrauen nicht auf Glück oder Zufall, sondern nehmen die Dinge selbst in die Hand. Sie ergreifen Möglichkeiten, wenn sie sich bieten. Sie haben ein realistisches Bild von ihren Fähigkeiten.

Während der Flüchtlingswellen der 1990er-Jahre stellte man fest, dass intakte soziale Beziehungen, aktive Beschäftigungsangebote und Gesundheitsförderung auch schwere Störungen und Verstörungen in erstaunlich kurzer Zeit weitgehend zu heilen vermögen. Ein Grund mehr, der angedeuteten Spur nachzugehen. Alles spricht dafür, im Wortsinne auf Zeit zu spielen.

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