Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Wie einst Kohl und Mitterrand

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Europa braucht ein gemeinsames Projekt und eine gemeinsame Vision.

Von Werner Weidenfeld

Europa steht unter Druck. Von innen wegen populistischer Aversionen und nationalistischer Distanzierungen, von außen wegen tektonischer Verschiebungen in der Weltpolitik und den damit verbundenen geostrategischen Risiken - von den Vereinigten Staaten über die arabische Welt bis hin zu China. Die Bürger sind durch die neue Wirklichkeit verunsichert, irritiert und verängstigt: Brexit, Schuldenkrise, Migration und Terror gehören dazu. Und jeden Teil dieser Wirklichkeit behandelt die Politik mittels eines situationsabhängigen Krisenmanagements. Unteressen wächst die Sehnsucht nach einer wirklichen Antwort, nach strategischer Orientierung. Das Zeitalter der Komplexität wird zum Zeitalter der Konfusion. Erstmals wird in einer großen Krise die Sinnfrage des Gesamtprojekts Europa gestellt - und die europäische Politik bleibt ohne Antwort.

Wie hilflos die Verantwortlichen sind, konnte man beim 60-jährigen Jubiläum der Römischen Verträge im vergangenen März sehen. Eigentlich sollte aus diesem Anlass ein großes Zukunftskonzept vorgelegt werden. Die Vorarbeiten des Europäischen Parlaments und des Präsidenten der EU-Kommission blieben im Muster gut gemeinter, aber strategisch inhaltsloser Freundlichkeiten stecken - und so war es auch mit der Jubiläumserklärung von Rom: wattierte Allgemeinplätze, wolkige Bekenntnisse.

Dabei liegen die Megathemen, die in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu erledigen sind, auf der Hand:

Die Wirtschafts- und Währungsunion muss politisch handlungsfähiger werden. Bisher melden die Mitgliedstaaten ihre Haushaltspläne im Rahmen des sogenannten Europäische Semesters an die EU-Kommission; die kann dann im Falle von Fehlentwicklungen allerdings nur über öffentliche Stellungnahmen Druck ausüben. Künftig sollte die Kommission direkt in die nationale Haushaltspolitik intervenieren können - auch in die Steuer- und Sozialpolitik. Wolfgang Schäubles Vorschlag für einen Europäischen Währungsfonds passt systematisch in dieses Bild.

Daneben ist die Sicherheit Europas neu und effektiv zu organisieren - von einer europäischen Armee, über die Kommandostruktur eines Hauptquartiers, die gemeinsame Beschaffungspolitik, die gemeinsame Organisation der Außengrenzen bis hin zur europäischen Cyber-Sicherheit und der transnationalen Organisation der inneren Sicherheit Europas.

Solche strategischen Grundsatzreformen brauchen neue Verfahren der Legitimation und eine transparente Führungsstruktur. Europa wird nur vital bleiben, wenn seine Bürger es auch als öffentlichen Raum wahrnehmen können.

All dies ist allerdings nur im Modell einer differenzierten Integration möglich. Man kann nicht bei jedem strategischen Aufbruch auf ein Europa der 27 warten, es sollten immer nur die mitmachen, die dazu auch wirklich bereit sind. Nötig wäre dazu ein europäischer Strategierat.

Der Kontinent muss sich aus der neuen Euro-Sklerose befreien

Europa braucht also Ziele, Perspektiven, Orientierungen. Es muss eine strategische Kultur aufbauen. Wer die große weltpolitische Zeitenwende mitgestalten will, der benötigt einen anderen politisch-kulturellen Umgang mit Europa. In der Globalisierung liegt die Idee für eine neue, kraftvolle Begründung der Integration. Einen Aufbruch aus der zweiten Euro-Sklerose kann nur vermitteln, wer die Kunst der großen Deutung beherrscht. Europa hat das Potenzial zur Weltmacht. Allerdings muss dieses Potenzial angemessen organisiert und mit dem Geist europäischer Identität erfüllt werden.

So braucht Europa einen Ort repräsentativer Selbstwahrnehmung. Nach der klassischen Lehre der repräsentativen Demokratie ist dieser Ort das Parlament. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente sind gegenwärtig jedoch weit davon entfernt, der Ort zu sein, an dem Europäer sich mit ihren Zukunftsbildern und Hoffnungen, mit ihren Ängsten und Konflikten wahrnehmen können. Identität entsteht durch gemeinsame Erfahrungen. Diese haben dramatisch zugenommen. Die Europäer sind viel mehr aufeinander angewiesen als früher. Das schafft neue Möglichkeiten. Allerdings muss sich Europa als Strategie-Gemeinschaft begreifen.

Es gibt ein historisches Beispiel, aus dem man Anregungen für heute und morgen ableiten kann: Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre war die Stimmung in Europa der heutigen sehr ähnlich. Der Kontinent schien mit seinen negativen Wirtschaftsdaten im Niedergang begriffen zu sein. Wer an der Zukunft interessiert war, blickte nach Asien. "Euro-Sklerose" wurde zum Schlüsselbegriff. Damals entschlossen sich François Mitterrand und Helmut Kohl, Europa zu retten. Sie erkannten, dass sie einen strategischen Kopf benötigten und fanden ihn in Jacques Delors. Der bot als Antwort auf die Krise eine identitätsstiftende, große Herausforderung an: die Vollendung des Binnenmarktes, verbunden mit fast 300 Gesetzeswerken, einem konkreten Zeitplan und einer umfassenden Kommunikationsstrategie. Aus der großen Krise wurde eine Erfolgsgeschichte.

Wie lässt sich diese Erfahrung auf die Gegenwart übertragen? Zunächst einmal ist ein klarer Blick auf die Schwierigkeiten nötig - von der Euro-Krise über das Flüchtlingsdrama bis hin zur Bedrohung durch den Terror. Dann ist aus der Problemanalyse eine Gesamtperspektive für Europa abzuleiten. Unter Problemdruck kommt es so zu Lernprozessen und schließlich zu einer Lösung.

Es geht also nicht um Traumtänzerei in eine neue historische Epoche, sondern um die Gestaltung der gegenseitigen Abhängigkeit in Europa. Politik, Wirtschaft, Kultur und Digitalisierung haben sich längst jenseits traditioneller Grenzen des Nationalen oder des Regionalen ineinander verwoben. Ein immenser Machttransfer ist bereits vollzogen. Entweder wird man davon überrollt, entmündigt, ja erdrosselt - oder man schafft angemessene Gestaltungsräume wie eben eine handlungsfähige, führungsstarke Europäische Union. Dazu bedarf es nicht nur klarer Normen, es bedarf auch strategischer Köpfe.

Europa kann seine weltpolitische Mitverantwortung wahrnehmen und sich in der globalisierten Welt selbst behaupten. Dazu ist es notwendig, den Bürgern den Entwurf einer inspirierenden Vision der eigenen Zukunft vorzulegen. Damit ist auch unsere Aufgabe für das nächste Europa definiert: Die Frage nach dem Sinn des europäischen Projekts beantworten und ein entsprechendes Narrativ dafür zu erarbeiten. Sowohl Deutungs- als auch Erklärungsleistung ist dazu notwendig. Mit anderen Worten: Die Seele Europas muss wiedergefunden werden.

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Quelle:
SZ vom 23.05.2017
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