Außenansicht:Wie der Deal funktionieren kann

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Die EU muss jetzt Griechenland helfen und mehr Flüchtlinge übernehmen.

Von Guntram Wolff

Das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei gilt manchen als unmoralisch oder gar rechtswidrig. Trotzdem ist es eine Verbesserung gegenüber der bisherigen Situation, die zu einer humanitären Katastrophe in Griechenland und dem Zusammenbruch nicht nur der Schengen-Zone hätte führen können. Jetzt muss sich Europa aber darauf konzentrieren, das Abkommen umzusetzen, Griechenland technische Hilfe anzubieten, dort für politische Stabilität zu sorgen und der Wiederansiedlung zum Erfolg zu verhelfen.

Ziel der Verhandlungen mit der Türkei war es, die Zahl der in der EU ankommenden Flüchtlinge zu reduzieren und das Geschäftsmodell der Schleuser zu zerstören. Zentral ist die Vereinbarung, illegal in Griechenland eingereiste Migranten in die Türkei zurückzuführen. Für jeden so zurückgeführten Flüchtling nimmt die EU einen syrischen Flüchtling aus der Türkei auf. In vielerlei Hinsicht tut es die EU damit Großbritannien gleich, das bei der Flüchtlingskrise syrische Flüchtlinge direkt aus der Türkei nach Großbritannien bringt, diejenigen Menschen, die Europa durchquert haben, aber nicht aufnimmt.

Der UNHCR und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen haben angekündigt, nicht mehr in griechischen Flüchtlingslagern operieren zu wollen. Ihrer Ansicht nach kommt die Rückführung von Migranten in die Türkei einer rechtswidrigen "Massenabschiebung" gleich. Zudem sei die Türkei kein sicheres Land und die Lager in Griechenland ähnelten "Internierungslagern". Die Kritik ist zum Teil gerechtfertigt. Insbesondere muss die EU die Bedingungen in den griechischen Flüchtlingslagern verbessern und die Türkei anhalten, die Migranten entsprechend völkerrechtlichen Vorgaben zu behandeln.

Kritiker haben bisher keine Alternativen vorgeschlagen. Eine Entscheidung über die EU-weite Verteilung von Flüchtlingen gibt es bereits, sie hätte die Aufnahme einer großen Zahl von Menschen ermöglicht. Viele Regierungen weigerten sich jedoch, die Entscheidung umzusetzen. In Deutschland, Schweden und Österreich wurde es unterdessen politisch unmöglich, weiterhin so gut wie alle Flüchtlinge aufzunehmen. Das zeigten die Schließung von Grenzübergängen in Schweden und Österreich sowie die Wahlerfolge einer einwanderungsfeindlichen Partei bei Landtagswahlen in Deutschland.

Vor dem Abkommen drohten daher immer mehr Grenzschließungen in den Balkanstaaten, in Mitteleuropa und Richtung Italien. Dies hätte faktisch zur Verschiebung der EU-Außengrenzen geführt und Griechenland und Italien aus einer funktionierenden Zone der Freizügigkeit ausgeschlossen. Deshalb ist das Abkommen eine Verbesserung. Worauf es nun ankommt, ist die Umsetzung. Oberste Priorität muss es sein, Griechenland - das schwächste Glied in der Kette - zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass das Programm zur Neuansiedlung funktioniert.

Die EU hat Griechenland technische Hilfe bei der Abfertigung von Migranten versprochen. Die muss nun dringend kommen, besonders weil sich der UNHCR und viele NGOs zurückziehen werden. Die Kommission schätzt die Kosten der praktischen Umsetzung des Flüchtlingsabkommens auf etwa 280 Millionen Euro für die kommenden sechs Monate - ein erstaunlich niedriger Betrag.

Noch wichtiger ist politische Stabilität für Griechenland. Wenn die Troika nach Athen zurückkehrt, um die Bedingungen für neue Hilfen auszuhandeln, sollte dies mit großzügigeren Konditionen für die Schuldentilgung einhergehen. Die dringend notwendigen Strukturreformen (Reform des Rentensystems und der öffentlichen Verwaltung, Einführung eines Grundbuchs und einer angemessenen Wettbewerbspolitik) sollten streng durchgesetzt werden. Bezüglich der Schuldentilgung muss insbesondere die Forderung herabgesetzt werden, dass der griechische Haushalt einen Primärüberschüssen von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufweisen muss. Die Marke ist zu hoch und riskiert die Destabilisierung der griechischen Wirtschaft und des politischen Systems.

Tatsächlich gibt es nur sehr wenige Beispiele für Zeiten, in denen Länder Primärüberschüsse von mehr als drei Prozent erwirtschafteten. Griechenland wird nicht dazugehören: Das BIP des Landes ist um etwa 25 Prozent geschrumpft, die Weltwirtschaft schwächelt. Eine Senkung des geforderten Primärüberschusses ist wirtschaftlich sinnvoll und letztlich auch im Interesse der Gläubiger, da dies das Land politisch stabilisieren wird und so auch die Aussicht auf Schuldentilgung verbessert. Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise ist dies umso wichtiger.

Zentral ist außerdem die Umsiedlung von Flüchtlingen, sowohl aus Griechenland als auch aus der Türkei. Unter dem gegenwärtigen Programm sollen bis Mitte Mai mindestens 20 000 Menschen aus Griechenland in andere EU-Länder umgesiedelt werden. Dies reicht jedoch nicht. Derzeit halten sich circa 50 000 Flüchtlinge in Griechenland auf, von denen die meisten dort angekommen sind, ehe das Abkommen in Kraft getreten ist. Der Prozess sollte beschleunigt werden, nicht zuletzt, um die Bedingungen für diese Flüchtlinge zu verbessern.

Ein effektvoller Start der Umsiedlung aus türkischen Lagern ist für die EU auch wichtig, um Flüchtlingen in der Türkei glaubhaft zu signalisieren, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, in der Türkei und nicht in Griechenland auf Asyl zu warten. Je mehr Menschen direkt aus der Türkei umgesiedelt werden, desto wirksamer kann die EU die Versuche der Schleuser untergraben, neue Routen durch Libyen oder den Kaukasus in die EU zu finden. Leider liegen noch immer keine Details dazu vor. Am 4. April hat Deutschland begonnen, einige Syrer direkt aus der Türkei aufzunehmen, doch aus anderen EU-Ländern ist nichts bekannt. Die ursprüngliche Einigung über 72 000 Flüchtlinge ist sicher zu niedrig, um den Schleusern Einhalt zu gebieten. Die EU-Mitglieder müssen ihren Verpflichtungen zur Neuansiedlung nachkommen und sollten sie zudem freiwillig weiter aufstocken.

Das zeigt: Die Umsetzung des Abkommens ist schwierig. Ohne den Deal wären die EU-Außengrenzen jedoch komplett zusammengebrochen, Griechenland und andere Grenzländer wären mit der Flüchtlingskrise vollständig auf sich gestellt. Die EU muss nun Griechenland großzügig unterstützen und die Zahl der direkt aus der Türkei umgesiedelten Flüchtlinge schnell erhöhen. Ohne diese Schritte wären die moralischen Kompromisse, die mit diesem Türkei-Abkommen eingegangen wurden, vergebens gewesen.

© SZ vom 27.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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