Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Wettlauf der Dschihadisten

Afrika entwickelt sich zur gefährlichsten Front im Kampf gegen den Terror.

Von Wolfgang Ischinger

Fragt man nach der Terrororganisation, die weltweit für die meisten Toten verantwortlich ist, denken die meisten wohl zunächst an den "Islamischen Staat". Die meisten Opfer forderte jedoch eine ganz andere Organisation: Boko Haram aus Afrika. Und diese Gruppe, die sich mittlerweile offiziell mit dem Islamischen Staat (IS) verbündet hat und weite Teile Nigerias, Kameruns, Nigers und Tschads heimsucht, ist bei Weitem nicht die einzige Organisation, die Afrika in den Fokus rückt. In nur zwei Jahren, zwischen 2013 und 2015, hat sich die Zahl afrikanischer Terroropfer mehr als verdreifacht.

Im Norden des Kontinents, in Libyen, entwickelt sich eine neue Basis des Islamischen Staates, der in seinem Kerngebiet in Syrien und im Irak zuletzt empfindliche Gebietsverluste hinnehmen musste. In Ostafrika operiert al-Shabaab nach wie vor erfolgreich. Und auch al-Qaida hat, zuletzt mit den Anschlägen in der Elfenbeinküste, im dschihadistischen Wettbewerb um Öffentlichkeit und Rekruten wieder aufgerüstet.

Auch an vielen anderen Orten wachsen und gedeihen dschihadistische Strukturen. Unser südlicher Nachbarkontinent droht zur gefährlichsten Front im Kampf gegen den Terror zu werden. Und das ist mitnichten nur ein afrikanisches Problem.

Es soll hier nicht darum gehen, das alte, überholte Bild von Afrika als Krisenkontinent wiederzubeleben. Afrika wird heute zu Recht bei Weitem nicht mehr nur als Hort von Krisen und Armut wahrgenommen. Viele Staaten haben enorme Fortschritte gemacht und zeichnen sich durch ein hohes wirtschaftliches Wachstum, eine rapide wachsende Mittelschicht und große Fortschritte im Kampf gegen Armut, Kindersterblichkeit und Infektionskrankheiten aus.

Gleichzeitig sind diese Fortschritte allerdings massiv gefährdet, durch teils noch immer währende, teils neue Herausforderungen. Es ist höchste Zeit, diese Gefahren deutlich zu benennen - und daraus auch ein entsprechend höheres europäisches Engagement abzuleiten. Wir laufen Gefahr, den akuten Krisen hinterherzulaufen und die großen strukturellen Fragen zu vergessen.

Eine der größten Fragen ist die nach dem richtigen Umgang mit Afrikas Bevölkerungsboom: Nach Projektionen der Vereinten Nationen wird sich die Bevölkerung Afrikas allein in den nächsten 35 Jahren mehr als verdoppeln, von 1,19 Milliarden Menschen auf 2,48 Milliarden. In Niger beispielsweise liegt das mittlere Alter bei unglaublich niedrigen 15,2 Jahren, in Mali bei 16,1 Jahren. Beide Staaten haben sich zuletzt besonders anfällig für dschihadistischen Terror gezeigt.

Die Gebietsverluste des IS sind kein Zeichen für dessen Niedergang

Hier wird bereits eine der zentralen Gefahren deutlich, die dieses Wachstum birgt: Gelingt es den Staaten, ihre Infrastrukturen und Institutionen auf diesen massiven Bevölkerungszuwachs vorzubereiten - vor allem die Gesundheits- und Bildungssysteme - und den Menschen Perspektiven zu bieten, werden viele Gesellschaften in Afrika zu den dynamischsten der nächsten Jahrzehnte gehören. Gelingt es ihnen jedoch nicht, drohen beschleunigter, weitverbreiteter Staatszerfall und die Ausgrenzung, Verarmung und womöglich die Radikalisierung Hunderter Millionen Menschen.

Ein solches Szenario wäre nicht nur für die unmittelbar betroffenen Menschen und Gesellschaften eine Katastrophe. Der massive Bevölkerungszuwachs würde höchstwahrscheinlich auch zu neuen Flüchtlingsströmen nach Norden führen, welche die heutigen Zahlen vergleichsweise niedrig erscheinen lassen. Und er würde fruchtbaren neuen Nährboden für die Rekrutierung vieler Tausender Dschihadisten schaffen. Schon jetzt sind Unordnung und Instabilität in Regionen mit schwacher Staatlichkeit einer der wichtigsten Gründe für die dschihadistischen Erfolge in Afrika. Besonders deutlich zeigt sich dies beim Blick nach Libyen, das sich über die vergangenen Monate zur neuen Hochburg des Islamischen Staates entwickelt hat.

Die Gebietsverluste in Syrien und im Irak sollten also keinesfalls als erstes Zeichen für den Niedergang der Terrororganisation interpretiert werden. Ganz im Gegenteil: Der Islamische Staat und andere terroristische Gruppierungen suchen sich - gewissermaßen wie ein Virus, das neue Wirte befällt - immer wieder neue Gebiete, deren Bedingungen die Ausbreitung ihrer Ideologie und Schreckensherrschaft begünstigen.

Dabei nutzen sie auch die Frustration und Unzufriedenheit marginalisierter Gesellschaftsgruppen für ihre Zwecke. Während al-Qaida oder der Islamische Staat immer wieder auch Anschläge im Westen planen und dabei globale Ziele verfolgen, sind ihre Wurzeln und ihr Gefahrenpotenzial also vor allem lokal zu verorten. Hier muss daher unser Fokus liegen: durch lokal angepasste Strategien schwache, anfällige Staaten zu schützen und so die Bedingungen zu schaffen, um Erfolge dschihadistischer Gruppierungen zu verhindern. Der Aufbau stärkerer staatlicher Strukturen, insbesondere angesichts des kommenden Bevölkerungsbooms in Afrika, ist also die beste langfristig angelegte Anti-Terror- Politik.

Dies kann nicht heißen, die militärische Komponente außen vor zu lassen. Im Gegenteil, jede erfolgreiche Strategie muss auf mehreren Pfeilern aufbauen. Dazu zählen militärische Maßnahmen genauso wie verbesserte Geheimdienstarbeit, beispielsweise durch verstärkten Informationsaustausch. Doch jenseits ihrer territorialen Präsenz und ihres globalen Anhängernetzwerks haben Gruppen wie der Islamische Staat auch digital eine bisher ungekannte Präsenz. Von sozialen Medien über private Chatrooms bis hin zu verschlüsselten Nachrichtensystemen: Die Terrornetzwerke nutzen eine zunehmend vernetzte Welt gekonnt für ihre Propaganda und Nachwuchsrekrutierung. Nur eine Strategie, die dschihadistische Gruppierungen sowohl auf dem physischen als auch dem digitalen Schlachtfeld zurückdrängt, und dabei gleichzeitig die Wurzeln ihres Erfolgs bekämpft, indem sie friedliche Entwicklungsperspektiven aufzeigt, hat daher langfristig Chancen auf Erfolg.

Andernfalls bleibt Libyen nur einer von vielen Fällen, im Rahmen derer wir die Stabilitätsrisiken viel zu lange unterschätzt haben - mit fatalen Konsequenzen, wie wir heute sehen müssen. Eigentlich sind sich die Europäer darin einig, dass es besser ist, frühzeitig und präventiv mit zivilen und, wenn nötig, auch mit militärischen Mitteln zu handeln, um noch Schlimmeres zu verhindern. Im Falle Afrikas können sie jetzt beweisen, dass es ihnen ernst damit ist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2947271
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.04.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.