Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Was scheren mich die anderen?

Der Brexit ist Folge der Desintegration der britischen Gesellschaft.

Von Dennis L. Snower

Europa diskutiert über die Konsequenzen des Brexit - und übersieht dabei ein entscheidendes Detail: Wer für den Austritt Großbritanniens aus der EU gestimmt hat, der tat dies meist nicht aus rationalen wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Das Votum ist vielmehr Resultat des gesellschaftlichen Konflikts zweier Gruppen, die wenig miteinander gemeinsam haben - außer, dass sie kein besonderes Interesse mehr am Erfolg der britischen Gesellschaft als Ganzes haben.

Die Entfremdung dieser beiden Gruppen hat sich über viele Jahre unter der Oberfläche abgespielt und eine gesellschaftliche Desintegration gigantischen Ausmaßes herbeigeführt. Mit dem Brexit ist dieser Konflikt nun für jedermann sichtbar. Um die Wunden zu heilen, die der Brexit gezeigt hat, muss man zunächst die Identität dieser beiden Gruppen verstehen - genauso wie die Hoffnungen und Ziele, die sie antreiben.

Konkret hat sich auf der einen Seite der britischen Gesellschaft die Gruppe der Machtlosen herausgebildet. Sie haben das Gefühl, nicht an den Gewinnen der Globalisierung beteiligt zu sein und ihren eigenen wirtschaftlichen und sozialen Erfolg nicht mehr eigenhändig steuern, geschweige denn steigern zu können. Auf der anderen Seite die Gruppe der Abgeschotteten - die Globalisierungsgewinner und Rentner, deren Wohlfahrt weitgehend unabhängig vom Auf und Ab der Wirtschaft ist - und denen der Rest der Gesellschaft herzlich egal ist.

Dieses Phänomen ist nicht nur Ausdruck von Ungleichheit. So mancher Rentner, der zu den Abgeschotteten gehört, ist genauso arm wie viele Arbeiter aus der Gruppe der Machtlosen. Vielmehr geht es um eine Abkoppelung vom Rest der Gesellschaft und die Abneigung, sein Schicksal mit den Sorgen und Ansprüchen der Gesellschaft in Einklang zu bringen. Die Gründe dafür sind ebenso ökonomischer wie psychologischer Natur: Ökonomisch haben die Machtlosen in der Tat begrenzte Möglichkeiten aufzusteigen - und die Abgeschotteten sind weitgehend unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes. Psychologisch wiederum sind die Identitäten dieser Gruppen nicht mit einem gemeinsamen gesellschaftlichen Ziel verbunden.

Auch mit unzureichender Einkommensmobilität, also der Möglichkeit, dass arme Menschen reich werden und umgekehrt und dass ein gesellschaftlicher Auf- und Abstieg für jedermann möglich ist, hat dieser gesellschaftliche Graben wenig zu tun. Die Menschen nehmen schlicht keinen Anteil an der Gesellschaft. Die Einkommensmobilität lässt sich durch politische Instrumente in den Sozial- und Steuersystemen verbessern - aber sie garantiert kein gemeinsames gesellschaftliches Ziel. Auch vor dem Zweiten Weltkrieg war die Einkommensmobilität in Großbritannien gering. Dennoch war damals der gesellschaftliche Zusammenhalt viel größer.

Die Antwort auf den Brexit heißt soziale Marktwirtschaft und Subsidiarität

Wenn eine Gruppe ihr Leben nicht durch eigenes Zutun verbessern kann und sich abhängig fühlt von Entwicklungen, auf die sie keinen Einfluss nehmen kann, und die zweite Gruppe ihren Lebensstandard vom Rest des Landes abgekoppelt hat, sind gesellschaftliche Konflikte programmiert. Beide Gruppen nehmen dann Identitäten an, die sie miteinander und mit der restlichen Gesellschaft in Konflikt bringen.

Die Machtlosen sind wütend: darüber, dass sie machtlos sind und unter den Sparmaßnahmen der Regierung leiden. Weil sie trotz harter Arbeit keinen Fortschritt in ihrem Leben machen, bauen sie auch ihre Identitäten nicht rund um ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf, sondern fokussieren sich auf ihre Kultur, auf ihr Britisch-Sein. Die britische Identität wird auf diese Weise wichtiger für sie als der Lebensstandard - und sie fühlen sich zu Politikern hingezogen, die ihnen versprechen, ihnen ihr Land zurückzugeben und Brüssel zu entmachten.

Die Abgeschotteten sind abgehoben und unnahbar. Ihr Einkommen hängt meist nicht von der Arbeitslosenquote ab. Sie können es sich leisten, ihre britische Identität in den Vordergrund zu stellen, genauso wie Rentner, deren Pensionszahlungen nicht von der Konjunktur abhängen. Und viele Bauern glauben vielleicht, mehr Subventionen zu bekommen, wenn ihr Land nicht mehr der EU angehört.

Kurz: Der Brexit ist Ausdruck einer sozialen Desintegration gigantischen Ausmaßes. Der Unfähigkeit, sein soziales und ökonomisches Standing mit seiner Leistung in Verbindung zu bringen und dem Unwillen, ein gemeinsames Ziel mit den Mitbürgern zu verfolgen. Beide Gruppen, sowohl die Machtlosen als auch die Abgeschotteten, wurden bedeutend größer durch die Deregulierung der Finanzmärkte seit den 1990er-Jahren und durch den Sparkurs der britischen Regierung seit der Finanzkrise von 2008.

In dieses gefährliche soziale Gebräu hinein kamen in den vergangenen Jahren auch noch mehrere Einwanderungswellen aus der EU, womit insbesondere die Machtlosen ihre Sündenböcke hatten: die Ausländer, die den hart arbeitenden Briten die Jobs wegnehmen und Sozialleistungen abkassieren. Schuld an allem war die EU, die allerdings auch selbst durch undemokratische Entscheidungen viel zu ihrem schlechten Ruf beigetragen hat.

Für Europa ist es daher an der Zeit, seine Lektion zu lernen - und zwar schnell. Viele andere Länder haben ähnliche Probleme wie Großbritannien, was sich unter anderem im Erfolg rechtspopulistischer Parteien widerspiegelt. Die Globalisierung hat zwar viel Wohlstand kreiert, doch wenn dadurch die Eliten abgeschottet und die Armen machtlos werden, entsteht automatisch eine Gegenbewegung: Unter den Machtlosen bilden sich nationalistische Identitäten heraus, während die Abgeschotteten die Machtlosen nicht mehr unterstützen.

Europa hat darauf zwei Antworten: Die soziale Marktwirtschaft und das Subsidiaritätsprinzip. Die soziale Marktwirtschaft verfolgt das Ziel, das Soziale neben dem Markt zu fördern, sodass ökonomische Gewinne gerecht zwischen den Menschen verteilt werden. Das stärkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft und wirkt einer Spaltung entgegen. Das Subsidiaritätsprinzip soll sicherstellen, dass staatliche Aufgaben so weit wie möglich von der unteren Ebene und/oder der kleineren Einheit wahrgenommen werden. Wird es ernst genommen, dann versteht jeder, dass man gleichzeitig regionale, nationale und europäische Belange und damit Identitäten berücksichtigen kann. Die wichtigste Erkenntnis, die Europa aus dem Brexit ziehen muss, ist aber, dass Wachstum ohne soziale Gerechtigkeit nicht nachhaltig ist.

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SZ vom 22.07.2016
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