Außenansicht:Was das Volk verlangt

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Gret Haller, 71, war in den Neunzigerjahren als Sozialdemokratin Präsidentin des Schweizerischen Parlamentes, danach Botschafterin beim Europarat. (Foto: Andreas Zimmermann)

Das Beispiel der Schweiz zeigt: Direkte Demokratie führt nicht automatisch in den Populismus. Aber sie braucht klare Regeln.

Von Gret Haller

Es war ein ereignisreiches Wochenende am 24. und 25. November 2018. Am Samstag demonstrierten in Frankreich mehr als 100 000 "Gilets jaunes"; in Paris gab es schwere Ausschreitungen. Am Sonntagvormittag genehmigte der Europäische Rat das Brexit-Austrittsabkommen. Und abends zeigte sich, dass in der Schweiz zwei Drittel der Abstimmenden die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative abgelehnt hatte, derzufolge das nationale Recht immer über dem Völkerrecht hätte stehen sollen. Es lohnt sich, diese Ereignisse zusammen zu betrachten: die Wut der französischen Bürger auf ihre Regierung, die der Briten auf die EU - und die Entschiedenheit der Schweizer. Sie zeigen, dass die direkte Demokratie der Schweiz keinesfalls so anfällig ist für Populismus, wie ihre Kritiker oft behaupten.

Die erste Volksinitiative gegen die "Überfremdung" wurde bereits 1965 eingereicht. Sie wurde klar abgelehnt, noch deutlicher zwei weitere in den Siebzigerjahren. Erst der rechtspopulistische Widerhall aus Europa brachte einen Umschwung: 2009 wurde eine Initiative "gegen den Bau von Minaretten" angenommen, 2010 eine "für die Ausschaffung krimineller Ausländer". Im Februar 2014 erschütterte dann die Annahme der Initiative "gegen Masseneinwanderung" das Land regelrecht. Nun war die Personenfreizügigkeit mit der EU und damit der Zugang zum europäischen Binnenmarkt gefährdet. Erstaunlicherweise bewirkte der Schock eine Umkehr. Seit dem 25. November darf sie sogar als einigermaßen nachhaltig bezeichnet werden.

Neben seiner Ausländer- und EU-Feindlichkeit richtet sich der Rechtspopulismus zunehmend gegen die Gewaltenteilung und das internationale Recht - das lässt sich in Polen und Ungarn beobachten, so agiert auch US-Präsident Donald Trump. Deshalb stellte sich in der Debatte immer stärker auch die stark exportabhängige schweizerische Wirtschaft gegen die Populisten. Die Nein-Kampagne fokussierte so über die Verteidigung der Grundrechte hinaus auch das Thema Rechtssicherheit, gestärkt durch die klare Haltung der EU in den Brexit-Verhandlungen. Auch deshalb gelang es nach 2014, zwei Initiativen aus dem rechtspopulistischen Lager zu verwerfen und die Zustimmung des Volkes zu einer Asylgesetzrevision zu erreichen. Das Feld für die Ablehnung der Selbstbestimmungsinitiative war bestellt.

Direkte Demokratie ist ein ständiger Lernprozess, aber er muss klaren Regeln unterworfen sein. Volksentscheide müssen "von unten" verlangt werden können. Plebiszitäre Referenden, Volksentscheide also, die nach Belieben der Machtträger "von oben" ausgelöst werden, zerstören die direkte Demokratie. Das Brexit-Referendum ist da ein gutes Beispiel: Volksabstimmungen dürfen nicht unter Umgehung des Parlaments inszeniert werden, denn die Stimmberechtigten haben ein Anrecht darauf zu wissen, was ihre Vertreter über die Materie denken. In der Parlamentsdebatte müssen die entscheidenden Argumente im Hinblick auf die Volksabstimmung ausformuliert werden.

Der Bürger ist kein gottgleiches Wesen und kann irren. Man kann also auch zweimal abstimmen

Die Lernfähigkeit der Demokratie macht auch eine Zweitabstimmung über denselben Gegenstand sinnvoll, wenn sich Resultate nachträglich als Fehlentscheide erweisen. Das Volk ist nicht ein gottgleiches Wesen, das den Monarchen ersetzt, so wie eine Verfassung immer Menschenwerk ist und deshalb nie heilig sein kann. Das wusste man in der Schweiz sehr wohl, als zum Beispiel in einem ersten Durchgang 1959 das Frauenstimmrecht und 1986 der UN-Beitritt abgelehnt wurden. Und wenn sich dereinst ein EU-Beitritt als unumgänglich erweisen sollte, wird es genauso sein. Schließlich: Ohne die Regelmäßigkeit von Volksabstimmungen kann der Lernprozess nicht stattfinden und entwickelt sich eine politische Kultur der direkten Demokratie nur schwerlich.

In der Auseinandersetzung um den Brexit kommen die Bedürfnisse der Wirtschaft nach Rechtssicherheit immer deutlicher zum Ausdruck. Auch hier zeigt sich immer klarer, dass rechtspopulistische Fundamentalvorstellungen letztlich wirtschaftsunverträglich sind. Den Bedürfnissen von Handel und der Wirtschaft nach Rechtssicherheit muss die Politik gerecht werden, und sie muss jene Regulierungen hervorbringen, die zur Sicherung der Grundrechte und des Zusammenhalts der Gesellschaft notwendig sind. Die Väter der europäischen Integration hatten das vor Augen, als sie ihr langfristig zweifellos politisch gedachtes Projekt zunächst über die wirtschaftliche Integration förderten.

Falsch ist jedenfalls die Behauptung, direkte Demokratie diene nur dem Rechtspopulismus. Unrealistisch wäre aber auch die Vorstellung, die entsprechende politische Kultur könne von einem Tag auf den anderen importiert werden. Die direktdemokratischen Erfahrungen der Schweiz gehen auf die Zeit vor 1848 zurück, also vor die Gründung des Bundesstaates. Sie stammen aus jenen Kantonen, welche in der Folge der Pariser Julirevolution von 1830 beeinflusst waren durch die beiden französischen Revolutionsverfassungen der Jahre 1792 bis 1794 und deren direktdemokratischen Elemente. Letztere wurden später vom Bund übernommen. In Frankreich konnte der direktdemokratische Gedanke letztlich nicht Fuß fassen. Die Manifestationen der "Gilets jaunes" bewegen sich außerhalb republikanischer Formen. Die sogenannten Wutbürger in Deutschland und Mittelosteuropa sowie viele Brexit-Befürworter wählen heute rechtspopulistisch.

In der Schweiz können "Wutbürger" mindestens viermal im Jahr ihr Unbehagen über die Behörden in geheimer Abstimmung zum Ausdruck bringen. Eine beschränkte Sicht auf diese Ventil-Funktion wäre aber ein arges Missverständnis der politischen Kultur dieses Landes. Diese verbindet nämlich Elemente aus dem deutschen und dem französischen Rechts- und Staatsverständnis. Was das Verhältnis zwischen Recht und Politik anbelangt, ist die Schweiz eher französisch geprägt. Von der historisch verständlichen Tendenz Deutschlands, politische Fragen umgehend zu verrechtlichen, ist sie weit entfernt. Dem Zentralismus Frankreichs und dessen präsidentieller Personalisierung steht sie jedoch fern. Ihr Föderalismus der vertikalen Souveränitätsteilung reicht mitunter sogar bis zu den Kommunen.

Die Schweiz vertraut stark auf politische Abläufe, auch, was die Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit anbelangt. Ihre politische Kultur mit deutschen und französischen Wurzeln hat es ihr ermöglicht, den Rechtspopulismus auf knapp 30 Prozent Stimmenanteil zu stabilisieren. Ein Labor für republikanische Kultur ist die Schweiz allemal - und dies seit 200 Jahren. Was sogar im Hinblick auf die EU von Bedeutung sein könnte.

© SZ vom 09.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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