Außenansicht:Was Armut bedeutet

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Wolfgang Fengler, 47, ist Ökonom bei der Weltbank in Wien. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit sozialen Themen und der Armut weltweit. (Foto: OH)

Deutschland beschäftigt sich zu sehr mit Ungleichheit. Das verstellt den Blick auf die wirklich Bedürftigen.

Von Wolfgang Fengler

Eines Tages, als wir über Waisenkinder in Kenia sprachen, fragte mich meine ältere Tochter: "Papa, du warst doch auch mal arm?" - "Ja", antwortete ich, "zwar nicht so arm wie viele Kinder in Kenia oder Indonesien. Aber meine Mutter musste trotzdem jede Mark zweimal umdrehen."

Ich bin in den 1970er- und 80er-Jahren mit einer alleinerziehenden Mutter in München aufgewachsen. Sie war Sekretärin in einem Gymnasium, konnte mir aber ein normales Leben ermöglichen, da sie sich durch diverse Nebenjobs ein wenig hinzuverdiente. Deshalb waren wir nicht arm. Ich ging in eine gute öffentliche Schule, in der meine Talente gefördert wurden, sodass ich danach auch studieren konnte.

Weltweit hatten damals nur wenige Menschen diese Chancen. Wenn Kinder in Asien und Afrika überhaupt überlebten, dann konnten sie nur selten eine Schule besuchen. Viele Familien hatten nicht genug Geld, um das Minimum an menschenwürdigem Leben zu garantieren. Nach dem Studium kam ich über ein globales Rekrutierungsprogramm zur Weltbank, deren Hauptziel es ist, die extreme Armut in der Welt zu eliminieren.

Im Kontext der gegenwärtigen Diskussion über Armut ist es erst einmal angebracht, sich die Definitionen, Trends und Fakten zu vergegenwärtigen. Der globale Armutsreferenzwert liegt bei knapp 60 Euro im Monat oder zwei Euro pro Tag. Genauer: 1,90 Dollar am Tag, gemessen an den Preisen von 2011. Diesen Maßstab haben auch die Vereinten Nationen und ihre 193 Mitgliedsländer einschließlich Deutschland festgeschrieben, als im Januar 2016 die neuen globalen Entwicklungsziele in Kraft traten.

Aus europäischer Perspektive scheint dieser Betrag extrem gering zu sein. Wer kann schon mit 60 Euro im Monat überleben? Global betrachtet, haben das viele Menschen schaffen müssen. Aufgrund des Wirtschaftsaufschwungs in Asien haben die meisten Menschen heute mehr Einkommen und leben länger als noch in den 1990er-Jahren, selbst die Ärmsten. Vor zwanzig Jahren waren noch fast die Hälfte unter der globalen Armutsgrenze. Seither hat die Weltgemeinschaft enorme Fortschritte gemacht und ist dem Ziel, die extreme Armut bis zum Jahr 2030 zu besiegen, schon deutlich nähergekommen.

Ich hatte die gleichen Chancen wie Kinder aus besser situierten Familien, ich konnte aufs Gymnasium

Nach unterschiedlichen Schätzungen leiden heute etwa acht Prozent der Weltbevölkerung an extremer Armut. Das sind immer noch mehr als 600 Millionen Menschen, von denen mehr als 400 Millionen in Afrika leben.

Ein Teil der Konfusion in der deutschen Debatte rührt daher, dass in vielen Staaten Europas eine relative Armutsdefinition verwendet wird. Typischerweise heißt die, dass arm ist, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens hat. Diese unklare Trennung zwischen relativer und absoluter Armut kritisiert auch Georg Cremer, der Generalsekretär der Caritas. In Deutschland lag die sogenannte Armutsgefährdungsgrenze im Jahr 2015 pro Person bei 1033 Euro monatlich. Nach internationaler Definition befindet sich eine Person mit diesem Einkommen in der weltweiten Mittelklasse. Das Problem einer relativen Armutsdefinition ist, dass sie im Kern Ungleichheit beschreibt. Deshalb gibt es auf internationaler Ebene eine klare Trennung zwischen Armut (Entwicklungsziel 1) und Ungleichheit (Entwicklungsziel 8).

Die Vermengung dieser Definitionen führt zu abwegigen Ergebnissen. Zum Beispiel war die Ungleichheit in Deutschland und in der Welt bis zum Jahr 1800 recht gering. Fast alle Menschen waren gleich, nämlich gleich arm. Wenn man den "Armutsbericht" damals veröffentlicht hätte, wäre die offizielle Armut nahe null gelegen, weil mehr als 95 Prozent der Menschen unter fast gleichen, meist schrecklichen Umständen lebten. Wenn man umgekehrt heute alle Realeinkommen verdoppeln würde, inklusive Hartz-IV-Satz, bliebe die Anzahl der Armen trotz des enormen Wohlstandsgewinns gleich. Schließlich könnten wir zum Ergebnis kommen, dass arme Länder mit moderater Ungleichheit, zum Beispiel Bangladesch oder Tadschikistan, plötzlich eine ähnliche Armutsquote hätten wie Deutschland.

Deshalb würde es zur Versachlichung der Diskussion beitragen, wenn man sich auch in Deutschland auf einen absoluten Referenzwert einigen könnte. Dann wäre es auch viel einfacher, gezielter auf die spezifischen Herausforderungen einzugehen, wie etwa auf die Bedürfnisse von Kindern in Not.

Wenn wir zum Beispiel einen Schwellenwert von 750 Euro netto pro Person annehmen, dann gibt es im Augenblick etwa 8,5 Millionen Menschen, die in Deutschland davon betroffen wären. Was müsste geschehen, um diese Einkommensarmut in Deutschland ganz zu beseitigen?

Das hängt sehr vom Alter und Wohnort der Betroffenen ab. Kinder brauchen beste Bildung, in der Schule und außerhalb. Erwachsene brauchen einen einfachen Zugang zum Arbeitsmarkt und gegebenenfalls Unterstützung beim Ortswechsel. Auch viele Senioren wollen sich noch in die Arbeitswelt einbringen, nicht zuletzt wegen des Zuverdiensts, und dies sollte ihnen erleichtert werden.

Deutschland hat mir die Chance gegeben, im Leben voranzukommen. Ich hatte die gleichen Chancen wie Kinder aus besser situierten Familien, konnte aufs Gymnasium, in den Sportverein und die Universität gehen, um dann später international tätig zu sein. Meine Hoffnung ist es, dass alle Kinder in Deutschland und der Welt die gleiche Chance bekommen, ihr Leben zu gestalten. Dazu bedarf es gleicher Chancen am Anfang - nicht am Ende. Denn genau dies ist der Antrieb, der Innovation schafft und den Wohlstand garantiert. Umgekehrt wäre es Gleichmacherei, die zur Konsequenz hätte, dass keiner mehr vorankommen möchte.

Ziel der Politik sollte es sein, die Grundlagen für starkes Wirtschaftswachstum zu schaffen, von dem vor allem die niedrigen Einkommensgruppen profitieren. Arbeit und Wirtschaft sind dynamische Prozesse. Neue Industrien und Geschäftsideen entstehen, alte verschwinden. Diese unübersichtliche, aber viel dynamischere Arbeitswelt bietet auch ungeheure Chancen für alle Menschen, die sich zutrauen, etwas Neues aufzubauen. Denn junge - und alte - Menschen sind nicht nur Bedürftige, die Arbeit suchen, sondern auch zunehmend fähig, Unternehmen selbst zu gründen und damit Arbeitsplätze zu schaffen. Die Zukunft von Arbeit und Wirtschaft liegt in einer vernetzten Wissenswelt, und damit besteht auch die Hoffnung, dass das Vorankommen nicht mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängt, sondern von Herz und Verstand des Einzelnen.

© SZ vom 04.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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