Außenansicht:Warum so bescheiden?

Portrait de l ecrivain italien Mario Fortunato 2014 Photographie AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT PUBLICAT; Mario Fortunato

Mario Fortunato, 58, wurde in Kalabrien geboren und lebte in London, Berlin und Rom. 1991 veröffentlichte er mit dem Tunesier Salah Methnani das Buch "Immigrant", das den Pier-Pasolini-Preis erhielt.

(Foto: imago)

Deutschland sollte seine ungeliebte Führungsrolle in Europa annehmen und zeigen, dass es der Lage gewachsen ist.

Von Mario Fortunato

Deutschland dominiert Europa, klagen jetzt alle. Aber stimmt das denn? Da ich nicht zu ideologischen Gedankengebäuden neige, gehe ich einfach von ein paar unmittelbaren Eindrücken aus, selbst wenn ich damit, zumindest nach Kant, auf der niedrigsten Stufe der intellektuellen Leiter stehe. Der erste Eindruck ist, dass sich in vielen Ländern einschließlich meines eigenen die Meinung durchgesetzt hat, Deutschland sei die einflussreichste Nation in der EU, nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht. Deutschland kann eine zwar nicht hohe, aber doch eine der höchsten Wachstumsraten auf dem Kontinent vorweisen, seine Gesellschaft ist ziemlich stabil und wohlhabend, die Verschuldung niedrig. Man blickt auf die Deutschen mit Bewunderung und Neid. Umgekehrt sehen die Deutschen Südeuropa als zerrüttete Region, deren Bewohner meist über ihre Verhältnisse leben.

Beginnen wir mit diesem Gemeinplatz, der, zumindest was Italien angeht, auf einem perspektivischen Irrtum beruht. Die öffentliche Verschuldung ist nur ein Teil der Wahrheit: Im Alltag wird man feststellen, dass viele Italiener ihr Leben mit Leichtigkeit meistern, vielleicht sogar besser als die Deutschen. Und das nicht, weil sie mehr ausgeben würden als sie verdienen, sondern, ganz im Gegenteil, aufgrund ihrer verbissenen Sparsamkeit. Nicht einmal in den schlimmsten Momenten der Finanzkrise von 2008 haben sie darauf verzichtet, Geld auf die Seite zu legen (behaupten die Banken). Hinzu kommt jenes unvergängliche italienische Sozialsystem, das sich "Familie" nennt. Von der allgegenwärtigen Steuerflucht gar nicht zu reden. Und so ändert sich das Bild erheblich. Italiener sind die fröhlichsten Individualisten: In den Staat haben sie kaum Vertrauen und investieren nur wenig in ihn. Das mag simpel klingen, ist aber nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt.

Um wieder auf Deutschland zurückzukommen, oder besser darauf, wie es wahrgenommen wird. In wirtschaftlicher Hinsicht gibt es keinen Zweifel: Der ökonomische "Motor" wird als solide, effizient und zuverlässig empfunden. In der Folge nimmt man Deutschland auch als politisch einflussreichen, wenn nicht zentralen Faktor auf europäischer Ebene wahr. Letztlich lässt sich der Brexit, denke ich, genau damit erklären: Das Argument, das mir vor dem Referendum vor einem Jahr am häufigsten zu Ohren kam, lautete, man wolle nicht, dass Frau Merkel ihre Nase in britische Angelegenheiten steckt. Diese Vorstellung ist auch bei meinen Landsleuten verbreitet: Oft sind sie der Überzeugung, dass die wichtigsten Entscheidungen nicht in Rom oder Brüssel, sondern in Berlin getroffen werden. Was wiederum am Selbstbewusstsein nagt.

Mir kommt es so vor, als sei es merkwürdigerweise gerade die deutsche Regierung, die am wenigsten Vertrauen in ihre - ich benutze diesen abstoßenden Begriff absichtlich - Macht besitzt. Daher scheint mir der entscheidende Fehler der jetzigen Regierung darin zu bestehen, dass sie es nicht versteht, eine der Situation angemessene Führung zu übernehmen. Zu große Bescheidenheit oder Unsicherheit, die sich vermutlich der Geschichte des 20. Jahrhunderts verdankt, erweckt allerdings den Eindruck, als sei Deutschland unfit to lead und kümmerte sich nur um seine Partikularinteressen. Wolfgang Schäuble hat dafür die schlimmsten Beweise erbracht: Immer präsent, um wie ein geiziger Buchhalter nachzurechnen, niemals ein Gedanke, eine größere Vision oder nur der Hauch einer Idee, um die Interessen und Besonderheiten der durch Geschichte, Mentalität und Kultur unterschiedlichen siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Volkswirtschaften miteinander zu verbinden.

Die anderen Europäer wissen nicht mehr, wie das heutige Deutschland denkt und fühlt

Deutschlands besondere Schwäche der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre liegt meines Erachtens auf kulturellem Gebiet. Indem es sich seines (relativen) inneren Wohlstands sicher sein konnte, hat es komplett darauf verzichtet, sich selbst nach außen darzustellen. Wir wissen, dass der deutsche Staat mehr in sein kulturelles Erbe investiert als der italienische oder der britische. Großartig. Aber was wissen wir Europäer von seiner heutigen Literatur, den Künstlern, Designern, Denkern, Filmregisseuren, Schauspielern, Tänzern, Musikern, Journalisten und Intellektuellen? Seit die großen Namen der Vergangenheit fehlen - Böll und Grass, Henze und Stockhausen, Gadamer oder Pina Bausch, um nur einige zu nennen -, wissen wir zu wenig darüber, was Deutschland im Augenblick von sich selbst denkt. Es sind die Worte, durch die jedes Land stets und vor allem lebendig und sichtbar wird, es sind die Gesten und, wie ich meine, die Träume dessen, der mit Sprache seine Welt hervorbringt.

Wir Europäer lesen weiter mit Leidenschaft die Gedichte Goethes, wir lieben Bach, denken wieder an Kant und bewundern Cranach - und nicht deshalb, weil sie in einer Art imaginärem kollektivem Museum ihren Platz hätten, sondern weil sie uns dabei helfen, uns selbst und die Gegenwart zu verstehen, unsere Identität (falls es sie je gegeben hat) als Europäer.

Um eben diese Identität geht es heute. Wir werden uns weder an EU-Richtlinien, noch an akribische Haushaltspläne halten können, solange wir nicht einmal im Entferntesten wissen, "was wir nicht sind, was wir nicht wollen", um es mit dem italienischen Nobelpreisträger Eugenio Montale zu sagen. Nun habe ich den Eindruck, dass wir Europäer von heute viele Dinge nicht sind und viele andere nicht sein wollen: Wir sind zum Beispiel keine Kriegstreiber; wir sind keine Amerikaner, auch wenn uns viele Dinge gefallen, die über den großen Teich herüberkommen; wir sind in der Regel nicht arm und auch keine Analphabeten; und wir wollen keine Diktatur, denn davon haben wir schon zu viele erlebt und gelernt, sie auf die eine oder andere Weise zu besiegen; wir wollen weder Mauern noch Stacheldraht, weil wir auch davon schon zu viel hatten und am Ende verstanden haben, dass sie mehr dem Zweck der Abkapselung als dem der Verteidigung dienen; und schließlich wollen wir nicht auf uns selbst verzichten, das heißt auf den langen Faden der Zivilisation, der sich vom antiken Athen bis zu unseren jetzigen Unsicherheiten und Ängsten spannt.

Persönlich habe ich nicht die geringste Angst davor, dass Europa politisch von Deutschland beherrscht werden könnte, weil ich denke, dass die demokratischen Werte, wie begrenzt und mangelhaft sie auch immer sein mögen, in Berlin gegenwärtig gefestigter sind als in Rom, Paris oder Madrid. Wenn überhaupt, dann sehe ich ein Problem in Brüssel, und erkenne es vor allem in seiner institutionellen Schwäche - einer Schwäche, die es wichtigen Hauptstädten wie Budapest erlaubt, in Richtung Faschismus abzudriften.

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