Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Vorwärts, Genossen!

Die SPD versinkt im Umfragetief - und droht bei anhaltender Schwäche in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Doch Europa braucht eine starke Sozialdemokratie.

Gastbeitrag von Rudolf Scharping

Verschwindet die Sozialdemokratie in Europa? Vor zwanzig Jahren hatte die Europäische Union 15 Mitglieder, elf dieser 15 Länder wurden sozialdemokratisch geführt. Heute gibt es in diesen 15 Ländern gerade einmal drei "linke" Regierungschefs. Das ist in Tempo und Ausmaß ein enormer Verfall an Überzeugungskraft und an Gestaltungsmöglichkeiten. Wer dessen Ursachen nachspürt, kommt an Europa, seiner Stellung in der Welt und am zeitgleichen Aufstieg derer nicht vorbei, die teils regionalistisch, teils populistisch, teils fremdenfeindlich, anti-semitisch und rechtsradikal agieren.

Gibt es einen Bedarf an sozialdemokratischer Politik? Zunächst: Europa ist ziemlich klein geworden in der Welt, die schon lange neu vermessen ist. Die geopolitischen Gewichte verschieben sich grundlegend. Das kann man an wenigen Zahlen zeigen: In der Europäischen Union leben rund sieben Prozent aller Menschen. In nur einer Generation werden es noch fünf Prozent sein. Dann werden in Asien fast 60 Prozent der Menschen leben, in Afrika weitere 22 Prozent. Allein in Nigeria werden über 400 Millionen Menschen leben, mehr als in den USA und nur rund 20 Prozent weniger als in der heutigen EU.

1980, am Beginn der chinesischen Öffnungspolitik, erarbeitete China knapp 2,4 Prozent der weltweiten wirtschaftlichen Kaufkraft. Heute sind es mehr als 18 Prozent. In der gleichen Zeit verminderte sich der Anteil Europas von 30 Prozent auf rund 16,5 Prozent; der Anteil der USA verringerte sich von 22 Prozent auf etwas über 15 Prozent. China kehrt zurück in den Rang einer globalen, mindestens wirtschaftlichen Macht, nach einer in der Geschichte beispiellosen Aufholjagd.

Der Zusammenhalt der Europäer ist eine Schicksalsfrage, soll dieses einzigartige Modell einer Zivilisation des friedlichen Zusammenwirkens der Völker und des Zusammenhalts der Gesellschaften bewahrt und gestaltet werden. Europa muss sein Schicksal in gemeinsame Hände nehmen - oder jedes einzelne Land wird zur Randerscheinung. Die Welt wird nicht auf uns warten. Wir müssen uns schon selbst für unsere Interessen und Überzeugungen stark machen - im globalen Wettbewerb der politischen und wirtschaftlichen Systeme, in internationalen Organisationen ebenso wie gegenüber großen Mächten.

Genau an dieser Stelle beginnen die Herausforderungen. Notwendig wäre ein neues Erstarken der Sozialdemokratie, aber ihr Verschwinden ist ebenso möglich. Es blieben dann ein paar soziale Ornamente an den Fassaden anderer Parteien; aber die führende und integrierende Kraft der linken Mitte wäre verschwunden.

Frieden und Gerechtigkeit lassen sich nur gemeinsam in Europa verwirklichen

Es fehlt an Weitblick und Wirklichkeitssinn, an Bodenhaftung und Respekt - und es fehlt an Stolz. Die deutsche Sozialdemokratie beispielsweise sondiert und erreicht Grundzüge eines Konzepts, das gutes Wachstum, faires Einstehen füreinander, neue Chancen für die Jugend und neuen Schwung für die Einheit Europas, mindestens für einen starken französisch-deutschen Motor ermöglicht. Das ist echter Aufbruch, eine zukunftsweisende Ergänzung der Vorschläge des französischen Staatspräsidenten. Was machen Teile der SPD? Sie ignorieren das Ergebnis, das angeblich kein "Leuchtturm" ist. Wer so geschichtsblind und zukunftsvergessen agiert, öffnet den Raum für nationalistische und rechtsradikale Propaganda und schneidet sich selbst alle Möglichkeiten ab, Menschen mitzunehmen auf den Weg der europäischen Selbstbehauptung.

Wem viele kleine Verbesserungen im alltäglichen Leben von Alten oder Jungen, von Schwachen oder Kranken nur Kleinkram sind, der hat nichts verstanden vom Kampf der Sozialdemokratie seit ihrer Gründung, von den Erfolgen und Niederlagen. Das beständige Kreisen um sich selbst in innerparteilichen Debatten, in selbstreferenziellen Zirkeln und Echokammern ist aber keine Bewegung, jedenfalls keine mitreißende oder vorwärtsweisende. Schlimmer noch ist die Ignoranz den Menschen gegenüber, denen Globalisierung eher als Gefahr erscheint, die sich abgehängt fühlen und in neuen Unsicherheiten alleingelassen. Diese Menschen werden empfänglich für (und wählen dann auch) rechtspopulistische oder rechtsradikale Angebote, scheinen die doch sozialen und politischen Schutz zu versprechen, auch gegen vermeintliche Eindringlinge. Sich gegen die politische Ausbeutung der Angst vor dem "Abgehängtwerden", dem "Ignoriertwerden" moralisch zu empören, ist legitim, ersetzt aber nicht das Ringen um spürbare Verbesserung des Alltags.

Man muss nur hinschauen und vergleichen: In Skandinavien ist die Sozialdemokratie ziemlich stark, dank fester Verankerung in Bevölkerung und Gewerkschaften, sie hat Weitblick und Wirklichkeitssinn. In Frankreich oder den Niederlanden fehlt es daran sehr - und womöglich bald auch in Deutschland. Es fehlt an kluger überzeugender Verbindung: geregelte Einwanderung in das Beschäftigungssystem, nicht in das Sozialsystem; faire Regeln, die eindeutig und hart durchgesetzt werden; Schutz für Verfolgte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung des Ruhrgebiets fast explosionsartig, auch wegen einer starken Zuwanderung aus Polen in die entstehende industrielle Herzkammer Deutschlands. Wo man gemeinsam schuftet und sich gemeinsam aus dem Dreck herausarbeiten will, entstehen Solidarität, Respekt, Integration. Und heute?

Die Sozialdemokratie verkörperte immer mächtige Hoffnungen: Frieden, Aufstieg durch Bildung und harte Arbeit, Gerechtigkeit in einer freien Gesellschaft, zu erkämpfen gegen "die da oben". Diese Hoffnungen werden sich nur gemeinsam in Europa verwirklichen lassen. Aber diese große Erzählung muss auch eingelöst, verwirklicht werden mit vielen, oft mühsam kleinen Schritten. Politik als Leidenschaft, die geduldig dicke Bretter bohrt - die muss aber auch "erzählt" werden.

Unser Kontinent ist vielen Vorbild und Sehnsuchtsort. In meiner Zeit als Professor der ältesten amerikanischen Fakultät für internationale Politik habe ich jeden Kurs der älteren Studierenden aus aller Welt gefragt: Stellt euch vor, ihr werdet noch einmal geboren! Ihr wisst dann schon alles von der Welt, was ihr heute wisst. Eines wisst ihr jedoch nicht: Wo ihr geboren werdet, wie die gesellschaftliche Stellung eurer Eltern ist, welche Religion und Hautfarbe sie haben. Wo wollt ihr dann geboren werden? Die große Mehrheit wollte dann in Europa, bevorzugt in Skandinavien oder Deutschland oder den Niederlanden zur Welt kommen. Das Ergebnis meines kleinen Gedankenspiels liegt über zehn Jahre zurück. Es lohnt, für dieses gute Europa zu kämpfen - im eigenen Interesse.

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SZ vom 26.01.2018/bern
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