Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Vor der antinationalen Revolution

Lesezeit: 3 min

Der Geburtsort wird in Zukunft nicht mehr über das Wohlergehen entscheiden.

Von Robert J. Shiller

Über die vergangenen Jahrhunderte hinweg hat die Welt eine Folge intellektueller Revolutionen gegen Unterdrückung in unterschiedlichster Form erlebt. Diese Revolutionen fanden in den Köpfen der Menschen statt und verbreiteten sich - im größten Teil der Welt - nicht durch Krieg, sondern durch Sprache und Kommunikationstechnik. Irgendwann waren die Ideen, die dabei propagiert wurden - anders als die Ursachen von Kriegen - nicht mehr kontrovers.

Ich glaube, die nächste derartige Revolution, voraussichtlich irgendwann im Laufe des 21. Jahrhunderts, wird die wirtschaftliche Logik des Nationalstaats infrage stellen. Sie wird an der Ungerechtigkeit ansetzen, die aus der Tatsache herrührt, dass einige Menschen, aus purem Zufall, in armen und andere in reichen Ländern geboren werden. Da immer mehr Menschen für multinationale Unternehmen arbeiten und Menschen aus anderen Ländern kennenlernen, wird dies unseren Gerechtigkeitssinn treffen.

Dafür gibt es Vorbilder. Der Historiker Steven Pincus argumentiert überzeugend, dass man die sogenannte Glorreiche Revolution 1688 in England nicht so sehr als Sturz eines katholischen Königs durch Parlamentarier betrachten solle, sondern als Beginn einer weltweiten Revolution im Zeichen der Gerechtigkeit. Man solle dabei nicht an die Schlachtfelder denken, sondern an die Kaffeehäuser mit kostenlosen, gemeinsam gelesenen Zeitungen, die zu etwa dieser Zeit populär wurden - Orte komplexer Kommunikation. Die Glorreiche Revolution markierte, und zwar bereits während sie stattfand, eindeutig den Beginn einer weltweiten Anerkennung der Legitimität von Gruppen, die die von einem starken König geforderte "ideologische Einheit" nicht teilten.

Thomas Paines Pamphlet "Common Sense", bei seiner Veröffentlichung im Januar 1776 ein Bestseller in den dreizehn nordamerikanischen Kolonien, markierte eine weitere derartige Revolution. Sie war nicht identisch mit dem Revolutionskrieg gegen Großbritannien, der im selben Jahr begann. Paine war einer der Gründerväter der USA; die Reichweite seiner Schrift lässt sich nicht messen, denn sie wurde nicht bloß verkauft, sondern auch in Kirchen und auf Versammlungen laut vorgelesen. Die Idee, dass Erbmonarchen uns normalen Menschen irgendwie spirituell überlegen wären, lehnte Paine entschieden ab. Heute stimmt dem der größte Teil der Welt zu, auch in Großbritannien.

Trotz aller Proteste gegen TTIP und TPP - es wird bessere Freihandelsverträge geben

Das ließe sich auch über die Abschaffung der Sklaverei sagen, die weniger durch Krieg erreicht wurde, als durch ein wachsendes Bewusstsein für deren Grausamkeit und Ungerechtigkeit. Die Aufstände des Jahres 1848 in Europa waren im Kern Proteste gegen Gesetze, die das Wahlrecht auf lediglich eine Minderheit der Männer begrenzten: Grundeigentümer oder Aristokraten. Das Frauenwahlrecht folgte wenig später. Im 20. und 21. Jahrhundert haben wir erlebt, wie die Bürgerrechte auf rassische und sexuelle Minderheiten ausgeweitet wurden. All diese Gerechtigkeitsrevolutionen rühren von besserer Kommunikation her. Unterdrückung gedeiht mit der Entfernung, wenn man die Unterdrückten nicht selbst sieht.

Die nächste Revolution wird die Folgen des Geburtsorts nicht beseitigen, aber die Privilegien der Nationalität werden abnehmen. Zwar scheint die einwanderungsfeindliche Stimmung weltweit heute in die gegenteilige Richtung zu weisen, doch wird das Gefühl für Ungerechtigkeit mit zunehmender Kommunikation wachsen. Letztlich wird das Erkennen, das etwas falsch ist, große Veränderungen auslösen.

Heute steht diese Erkenntnis noch immer in starker Konkurrenz zu patriotischen Impulsen, die auf einem Gesellschaftsvertrag zwischen Staatsbürgern beruhen, die jahrelang Steuern gezahlt oder Militärdienst geleistet haben, um aufzubauen oder zu verteidigen, was sie ausschließlich als das Ihre betrachteten. Unbegrenzte Einwanderung sieht nach einer Verletzung dieses Vertrages aus.

Doch die wichtigsten Schritte, um die durch den Ort der Geburt bedingte Ungerechtigkeit anzugehen, werden nicht auf Einwanderung zielen, sondern sich auf die Förderung der wirtschaftlichen Freiheit konzentrieren.

Im Jahr 1948 zeigte Paul A. Samuelson klarsichtig, dass sich unter den Bedingungen unbeschränkten Freihandels ohne Transportkosten (und unter Zugrundelegung weiterer idealisierter Annahmen) die Preisen aller Produktionsfaktoren (also Arbeit und Kapital) weltweit angleichen, einschließlich des Lohnes für standardisierte Arbeit. In einer idealen Welt müssen die Menschen nicht in ein anderes Land ziehen, um einen höheren Lohn zu erhalten. Letztlich müssen sie nur an der Produktion von Waren partizipieren, die international verkauft werden.

Nun, da die Technik Transport- und Kommunikationskosten gegen null drückt, ist dieser Ausgleich zunehmend realisierbar. Doch dorthin zu gelangen erfordert, alte Barrieren abzubauen und den Aufbau neuer zu verhindern.

Die derzeit diskutierten Freihandelsabkommen, die Trans-Pazifische Partnerschaft (TPP) und die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), haben Rückschläge erlitten, da Interessengruppen versuchen, sie für ihre eigenen Ziele zu verbiegen. Aber letztlich brauchen wir sogar noch bessere derartige Abkommen - und wir werden sie voraussichtlich auch bekommen.

Damit sich Löhne angleichen können, brauchen die Menschen eine stabile Basis für ein lebenslanges Berufsleben, die mit einem Land verbunden ist, in dem sie nicht physisch wohnen. Zugleich müssen wir die Verlierer des Außenhandels in den bestehenden Nationalstaaten schützen. In den USA gibt es solche Anpassungshilfen unter dem Namen TAA seit 1974. Kanada experimentierte 1995 mit einem "Earnings Supplement Project". Der 2006 ins Leben gerufene Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung hat ein winziges Jahresbudget von 150 Millionen Euro. US-Präsident Barack Obama hat vorgeschlagen, das TAA-Programm auszuweiten. Aber bisher sind dies kaum mehr als Experimente.

Letztlich wird die nächste Revolution vermutlich aus den täglichen Interaktionen mit Ausländern auf Computerbildschirmen herrühren, die wir als intelligente, anständige Leute wahrnehmen - Menschen, die ohne eigenes Verschulden in Armut leben. Dies sollte zu besseren Handelsabkommen führen. Sie setzen eine um mehrere Größenordnungen stärkere soziale Absicherung voraus, die in der Lage ist, während des Übergangs zu einer gerechteren globalen Wirtschaft Menschen innerhalb eines Landes zu schützen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3179396
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 27.09.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.