Europa:Wie es zum Rechtsruck in den neuen EU-Ländern kommen konnte

Warschau

Anhänger der regierenden Konservativen bei einer Demonstration in Warschau.

(Foto: Warschau)

Ungarn, Kroatien, Polen: In immer mehr ehemals sozialistischen EU-Ländern dominieren nationalkonservative Ideen die Politik.

Gastbeitrag von Magdalena Marsovszky

Die neuen EU-Länder rücken kräftig nach rechts: Erst war es Ungarn, danach kam Polen und schließlich Kroatien, wo seit den letzten Wahlen eine "Patriotische Koalition" die Belange des Landes in die Hand nimmt und "endlich für Gerechtigkeit" kämpfen will. Die Flüchtlingskrise hat gezeigt: Xenophobie ist im Osten Europas viel weiter verbreitet als im Westen, obwohl dort kaum Ausländer leben.

Die neuen EU-Länder sind Angstgesellschaften. Sie sind verspätete Nationen, weil sie sich zur Zeit der Aufklärung im nationalen Aufbau befanden. Die Ideen der Menschenrechte konnten deshalb nicht durch breite Massen verinnerlicht werden, und von den Idealen der Aufklärung blieb vor allem die Achtung der (gerade entstehenden) Nation zurück. Die Nation wurde abstammungsorientiert gedacht und nicht republikanisch-freiheitlich. In ethnisch orientierten Gesellschaften gehört das Stammesdenken durch Ausgrenzung zur Stärkung des Selbstverständnisses, während der Individualismus Angst erzeugt.

Auf dem sekundären Antisemitismus ruhten sich selbst Antifaschisten aus

Auch nach dem Holocaust blieb in Osteuropa das Selbstverständnis der Nation von Feindbildern bestimmt, zumal die offizielle sowjetische Politik ähnlich agierte. Indem der Faschismus auf den "Kapitalismus" übertragen wurde, konnte man weiterhin auf "den Anderen", nämlich den "imperialistischen Westen" zeigen, ohne sich selbst zu hinterfragen. So wurde auch der Vorkriegsantisemitismus auf das ebenfalls "imperialistische" Israel übertragen. Gesellschaftlicher Kitt war der sogenannte sekundäre - weil nach dem Holocaust entstandene - Antisemitismus, auf dem sich selbst Antifaschisten ausruhen konnten. Antisemitismus war offiziell verpönt, lebte aber als Antikapitalismus, Antiimperialismus, Antiamerikanismus und Antizionismus weiter. Die sozialistischen Klassengesellschaften behaupteten von sich, sie seien per se antifaschistisch. Der Rassismus überlebte umso leichter, weil man behauptete, durch Antikapitalismus den Faschismus zu überwinden.

Dann kam die Wende. 1989/90 wurden die autoritär sozialisierten Bewohner der postkommunistischen Länder plötzlich mit der Freiheit konfrontiert. Ehemals oppositionelle Werte wurden plötzlich nicht nur geduldet, sondern auch gefördert. Infolge der allgemeinen Verunsicherung empfanden sich viele als Opfer der Wende. In den letzten Jahren des Realsozialismus war das zarte Pflänzchen der Demokratie im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durchaus bemerkbar. Doch jetzt, nachdem die marxistische Klassengesellschaft plötzlich passé war, suchte man Schutz in der Idee der klassenlosen Volksgemeinschaft. Schnell griff auch die Angst vor dem Untergang der Nation um sich, und es wurden erneut Schuldige gesucht.

DIe Verschwörungstheorie wird auf die alten EU-Länder übertragen

Nachdem sich die Sowjetunion aufgelöst hatte und der alte Feind nicht mehr vorhanden war, wurde der Hass auf den "Globalkapitalismus" übertragen. In seinem Hintergrund wurde das "internationale Weltjudentum", in Ungarn bezeichnet als "Tel Aviv - New York - Brüssel - Achse", als Drahtzieher denunziert.

Bis heute wird die Verschwörungstheorie in einem postkolonialen Narrativ auf die alten EU-Länder übertragen und die europäische Integration als einfacher Wechsel der Unterdrückungsmechanismen von der "Ost-EU" (Sowjetunion) in die "West-EU" (Europäische Union) erlebt.

Um das Gefühl der Bedrohung leichter ertragen zu können, greift man nach alten religiösen Orientierungsmustern, die in diesseitiger, ethnoreligiöser Form inszeniert werden. Das Motiv der Auserwähltheit wird auf das eigene Volk übertragen, mit der These von der Abstammung aus einem so genannten "Urvolk" untermauert und von einer enormen Selbstüberhebung begleitet. Ausgangspunkt sind Klischees, Legenden und eine Geschichtsschreibung, die die vermeintlich Jahrtausende alte Homogenität der eigenen Kultur und ihre Erhabenheit über andere Kulturen nachweisen sollen.

In Ungarn ist die Ideologie vom Lebensraum seit 2012 geltendes Gesetz

Man sucht nach dem reinen, völkischen Kern und bezeichnet jeden fremden Einfluss als Verunreinigung. In Ungarn ist die Lebensraumideologie Teil des seit 2012 gültigen Grundgesetzes. In dessen Präambel ist die Rede von der "heiligen ungarischen Krone". Gemeint ist damit nichts anderes als die Volksgemeinschaft der Magyaren. Ist einmal im Grundgesetz der "Schutz der völkischen Nation" vor dem Schutz der Menschenwürde - verankert, wie dies in Ungarn der Fall ist, ist die Ausgrenzung von Menschengruppen nicht nur verfassungskonform, sondern fast notwendig. Wie elementar das neue Grundgesetz die Demokratie aushöhlt, sorgt weder in Ungarn noch im Ausland für besondere Irritationen.

Nur wenige können in Ungarn mit dem Begriff einer politischen Nation und der Demokratie mit universalen Menschenrechten etwas anfangen. Universalismus und Individualismus sind eher Angstbegriffe. Der Großteil der Gesellschaft ist im ethnisch definierten Nations- und Kulturbegriff gefangen. Obwohl die Methode in der Forschung längst revidiert ist, werden für die gesellschaftlichen Missstände noch immer ausschließlich sozio-ökonomische Verhältnisse verantwortlich gemacht, während der reflexive Zugang zur Gesellschaftskritik fehlt.

Die Opposition unterschätzt die Gefahren des Rassismus

Die gesamte Opposition agiert im Sinne eines Klassenkampfes und im Namen eines "schutzlosen Volkes" gegen eine "kapitalstarke, ausbeuterische Elite". Diese Sicht machen sich jedoch auch die Rechten gerne zu eigen, weil sie sich ebenfalls zum ausgebeuteten Volk zählen. Es entstehen unheimliche Allianzen. Sozialisten, Liberale, Grüne und Rechte bekämpfen zusammen im Namen der Nation und des Volkes die "finanzkapitalistisch-parasitäre Mafiaregierung" und das "spekulative Großkapital". Links und rechts sind vereint im antisemitischen Antikapitalismus. Dem zugrunde liegt das Kapitalismusbild als "krankhafte, terroristische und imperialistische Diktatur", die mithilfe von Großbanken, Börsen, Kapitaltransfers und Währungsspekulation die Politik beherrsche und nicht dem Volksganzen diene.

Die Fokussierung auf den Kampf gegen das "raffende" gegenüber dem "schaffenden" Kapital - ein nationalsozialistisches ebenso wie ein realsozialistisches Erbe, bleibt dem Rassismus gegenüber blind. Während die Opposition noch immer einen Klassenkampf gegen die "Machtelite" führt, realisiert sie nicht, dass es in der Rassentheorie eben darum geht, die Klassen aufzuheben und eine gemeinsame Rasse im Volkstum zu schaffen. Die Anwendung der Rassentheorie scheint gerade deshalb so anziehend, weil durch sie die Klassenunterschiede aufgehoben werden und die homogene Nation die letzte Erlösung von allen Problemen schaffen soll.

Magdalena Marsovszky

in Ungarn geboren, ist Kulturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte der Hochschule Fulda.

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