Außenansicht:Verrückte Märkte

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Das Ende der Geldschwemme an den Finanzmärkten könnte schneller kommen als gedacht. Die USA bereiten die Wende vor.

Von Martin Hüfner

Spätestens seit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 weiß jeder, dass die Finanzmärkte verrückt sind, im Wortsinne. Aber so extrem wie im Augenblick war es noch nie. Auf Spareinlagen gibt es praktisch keine Zinsen mehr. Wer Bundesanleihen kauft, muss auch bei längeren Laufzeiten sogar noch zuzahlen. Am Aktienmarkt dagegen gibt es auch bei konservativen Anlagen Renditen in zweistelliger Höhe. Sie will aber keiner kaufen.

In Dänemark verlangen Banken für Kredite nicht nur keine Zinsen, sie gewähren ihren Kunden sogar noch eine Prämie. Deflation und Inflation treten im Doppelpack auf: Güter des täglichen Gebrauchs werden billiger, Häuser und Wohnungen dagegen dramatisch teurer. Private Altersvorsorge, die bei sinkenden staatlichen Renten immer wichtiger wird, ist fast nicht mehr möglich. Sparer wissen nicht mehr, wohin mit ihrem Geld.

Wer hätte sich das noch vor ein paar Jahren vorstellen können? Eigentlich müssten die Menschen auf die Straße gehen und die Missstände anprangern. Sie müssten von Banken, Zentralbanken und Regierungen verlangen, ihre Hausaufgaben zu machen und die Märkte wieder in Ordnung zu bringen.

Aber was passiert? Das Schlechteste von allem. Die Menschen beginnen, sich mit den Verrücktheiten abzufinden. Sie nehmen das alles hin, als sei es nicht zu ändern. Der amerikanische Anleihe-Guru Bill Gross spricht, als sei es eine Selbstverständlichkeit, von einer "neuen Normalität". Selbst die Europäische Zentralbank begehrt nicht auf. Sie befeuert die Märkte im Gegenteil noch, indem sie seit einigen Wochen massenhaft Wertpapiere kauft und damit die Zinsen noch stärker drückt.

Das war bisher. Doch jetzt geschieht etwas ganz Ungewöhnliches. Ausgerechnet die amerikanische Notenbank Federal Reserve, der man das am wenigsten zugetraut hätte, stellt die neue Normalität infrage. Sie will sich nicht mit den verqueren Verhältnissen auf den Märkten abfinden. Sie will zurechtrücken, was schiefgelaufen ist. Das ist der tiefere Sinn, der hinter ihrer Entschlossenheit steckt, die Leitzinsen auch gegen mancherlei Widerstände und früher als erwartet zu erhöhen.

Wenige haben das bisher bemerkt. An den Finanzmärkten wird derzeit zwar viel über das Für und Wider des Lift Off diskutiert, also der Anhebung der amerikanischen Leitzinsen. Alle rätseln darüber, wann er kommt, wie stark er ausfällt und was er für die Finanzmärkte bedeutet. Wird er etwa zu einer Wiederholung des großen Crashs von 1937 führen, als der Dow Jones in zwei Monaten um fast 50 Prozent herunterrauschte - und das vier Jahre nach dem vermeintlichen Ende der Weltwirtschaftskrise? Davor hat der Gründer des Hedgefonds Bridgewater, Ray Dalio, kürzlich gewarnt. Oder kommen wir insgesamt mit einem blauen Auge davon?

Die Federal Reserve bereitet sich mit Bedacht auf höhere Zinsen vor

Über der Debatte wird die viel grundsätzlichere Frage vergessen: Warum tut sich die Federal Reserve das Ganze überhaupt an? Warum will sie die Zinsen erhöhen und damit neue Risiken eingehen? Es zwingt sie doch niemand. Die Wirtschaft der USA läuft. Es gibt - auch am Arbeitsmarkt - keine größere Überhitzung. Die Inflation liegt unter null. Da könnte man doch einfach weitermachen wie bisher.

So sieht das die Federal Reserve aber offenbar nicht. Sie ist besorgt über die Ungleichgewichte, die sie selbst durch die Flutung der Märkte mit Geld in den vergangenen Jahren mit herbeigeführt hat. Sie findet, dass man das nicht als "neue Normalität" verharmlosen darf. Was die Federal Reserve will, ist dreierlei. Erstens sollen die Zinsen wieder steigen. Anhaltend niedrige Zinsen sind nicht nur ungerecht für die Sparer. Sie führen auch zu Blasen an den Kapitalmärkten. Sie verzerren den Blick auf die Risiken, verursachen Fehlentwicklungen und gehen am Ende zulasten von Wachstum und Beschäftigung. Als ersten Schritt fasst die Notenbank daher jetzt eine Erhöhung der Leitzinsen ins Auge.

Zweitens soll die Liquidität wieder auf ein vernünftiges Maß zurückgeführt werden. Bereits im vergangenen Oktober hat sie daher die Wertpapierkäufe an den Kapitalmärkten eingestellt. Geld muss knapp sein, sonst funktioniert die Marktwirtschaft nicht. Es kommt zu Preissteigerungen. Das alte Gesetz, dass eine zu große Geldmenge auf Dauer zu Inflation führt, gilt nach wie vor. Es war nur vorübergehend wegen der schlechten Konjunktur und der niedrigen Ölpreise außer Kraft gesetzt. Die Inflation ist nicht tot. Sie wird wiederkommen.

Drittens soll die Geldpolitik insgesamt wieder auf normal gestellt werden. Unkonventionelle Maßnahmen wie Wertpapierkäufe im großen Stil sollen auf außergewöhnliche Zeiten beschränkt werden. Normal sollten Zinsen und andere Daten sich am Markt bilden und nicht durch die Zentralbank manipuliert werden. Die Wirtschaft ist nicht so schwach, dass sie permanent ein Stimulans benötigt. Es gibt keine säkulare Stagnation. Die geplante Zinserhöhung ist keine Restriktionspolitik, sondern nur eine Normalisierung. Die Anleger sollen sich wieder an den Gegebenheiten der Wirtschaft orientieren, nicht an den Überlegungen der Zentralbank.

Im Kern ist es eine gute Nachricht. Die verrückten Verhältnisse auf den Kapitalmärkten mit negativen Zinsen werden auf Dauer nicht so bleiben. Die Zeit des extremen Anlagenotstands dauert nicht ewig. Die alten Grundsätze des Anlegens mit vernünftigen Zinsen für vertretbare Risiken sind nicht Vergangenheit. Der Rentenmarkt wird daher auch für Normalanleger wieder interessant werden. Umgekehrt werden die Aktien auch nicht immer so boomen. Private Altersvorsorge wird wieder möglich werden. Ein erster Lichtschein am Ende des Tunnels ist erkennbar.

Freilich wird es lange dauern, bis das Ziel erreicht sind. Die USA fangen mit dieser Umstellung jetzt an. Aber sie sind nicht die Einzigen, die an den Anomalien schuld sind. Japaner und Europäer haben genauso dazu beigetragen. In Japan gibt es bisher noch überhaupt kein Umdenken. Die Europäer müssen erst ihr Wertpapierkaufprogramm abwickeln. Es läuft offiziell bis Herbst 2016. Danach wird es noch eine Weile dauern, bis auch in Europa Zinsen hochgehen.

Zudem wird der Entzug der Droge Liquidität wehtun, wie jede Entgiftung. Die Märkte können turbulent werden. Wenn die Zinsen steigen, sinken die Kurse für Anleihen. Zugleich können bei höheren Zinsen die Aktienkurse fallen. Diesen Preis müssen Anleger zahlen, wenn es am Kapitalmarkt wieder gesunde Verhältnisse geben soll. Sie können ihn aber auch zahlen, denn sie haben in den vergangenen Jahren viel Geld an der Börse verdienen können.

© SZ vom 22.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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