Außenansicht:Verpasste Chancen

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Werner Weidenfeld, 71, ist Direktor des Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) der Universität München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).

(Foto: Lindenthaler/imago)

Europa braucht deutsch-französische Führung.

Von Werner Weidenfeld

Als "zweiter Élysée-Vertrag" wird das deutsch-französische Abkommen gefeiert, das an diesem Dienstag von Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron in Aachen unterzeichnet wird. Der Name legt nahe, es handle sich um ein Ereignis von historischer Tragweite, doch die Verstimmungen sind unübersehbar und unüberhörbar. Denn parallel handelten auch die beiden Parlamente ein Übereinkommen aus, allerdings brachte man es nicht fertig, eine adäquate terminliche Regelung für beide Unterzeichnungsfestakte zu arrangieren. Das tut dem deutsch-französischen Verhältnis nicht gut. Kenner der Geschichte wissen: So etwas gab es schon einmal, nämlich beim ersten Élysée-Vertrag im Jahr 1963. Damals waren die Verwerfungen noch dramatischer, sie gingen über Termin- und Abstimmungsfragen hinaus. Und damals wie heute wurde eine Chance vertan, Europa voranzubringen. Wiederholt sich Geschichte?

Die Idee zum damaligen Vertrag war dem deutschen Kanzler Konrad Adenauer und dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle aus der Erfahrung von europäischen Erfolgen und Misserfolgen gekommen. Die Erfolge, das waren die Römischen Verträge mit der Gründung von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäischer Atomgemeinschaft (Euratom); sie wurden zunächst schneller umgesetzt, als es in den Verträgen vorgesehen war. Da wollten de Gaulle und Adenauer weitere Fortschritte draufsatteln. Gemeinsame Wirtschaftspolitik, gemeinsame Außenpolitik - in den sogenannten Fouchet-Plänen wurde dies als Ziel niedergelegt. Aber insbesondere am Widerstand der Niederlande, die darin anti-britische und anti-amerikanische Akzente sahen, scheiterte diese Initiative.

Die Schlussfolgerung aus diesem Misserfolg war für Adenauer und de Gaulle: Wenn die anderen Staaten die weltpolitischen Notwendigkeiten - damals durch die Weltmacht Sowjetunion in Form militärischer und ideologischer Bedrohung zum Ausdruck gebracht - und die integrationspolitischen Notwendigkeiten in Europa nicht erkennen, dann müssen Deutschland und Frankreich eben die Führung übernehmen und eine bilaterale Union bilden. Die anderen könnten sich ja später anschließen.

Die Geburtsstunde des Vertrages war der 4. Juli 1962, 10 Uhr. Adenauer und de Gaulle kamen zu einem 80-minütigen Gespräch zusammen. Es war das zweite Treffen der beiden Politiker während des Frankreich-Besuchs des Bundeskanzlers, der seinen symbolischen Höhepunkt in der feierlichen Messe in der Kathedrale von Reims fand, der Krönungskirche der Könige Frankreichs. Die Verhandlungen über den Vertrag begannen in einer höchst spannungsreichen internationalen Konstellation: Berlinkrise, Mauerbau, Kubakrise, Veto Frankreichs gegen den Beitritt Großbritanniens zur EWG, Zweifel an der Handlungsfähigkeit der Nato, sowjetische Hochrüstung.

Man sollte in den Archiven nachlesen, was de Gaulle und Adenauer wirklich planten

Europa blieb ohne überzeugende Antwort auf all diese Herausforderungen. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle führten viele und lange Gespräche, das Ergebnis lautete: Es sollte eine komplette politische Union beider Staaten geben, mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik, mit gemeinsamer Wirtschaftspolitik, mit Elementen gemeinsamer Kulturpolitik bis hin sogar zu einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft. Ursprünglich versuchten Adenauer und de Gaulle die Form eines völkerrechtlichen Vertrages zu vermeiden, denn sie wollten die parlamentarischen Entscheidungsprozesse umgehen. Als Informationen über die höchst ambitionierten Vereinbarungen durchsickerten, war klar: Der Bundestag würde ablehnen. Man wollte keinen Ärger mit den USA und mit Großbritannien.

Sofort wurde der Vertragsinhalt drastisch verschlankt. Die geschrumpfte Fassung fand ihr Profil in der freundlichen Betonung des Jugendwerkes und der Städtepartnerschaften. Aber selbst diese Version war der Bundestag nur bereit zu ratifizieren, nachdem eine rechtlich bindende Präambel hinzugefügt worden war: Der Vertrag diene auch der Vertiefung der deutsch-amerikanischen und der deutsch-britischen Beziehungen. Solche geradezu satirischen Merkwürdigkeiten lösten bestenfalls hintergründiges Gelächter aus. Der französische Staatspräsident de Gaulle rief aus: "Der Vertrag ist tot, bevor er in Kraft tritt." Jedenfalls formulierte der Vertrag nicht mehr die deutsch-französische Zukunftsstrategie als Antwort auf die Herausforderungen der damaligen Zeit.

Und heute? Eigentlich sollte man erwarten, dass ein solcher zweiter Vertrag ein neues Gravitationsfeld der deutsch-französischen Kooperation schafft und dass er die Handlungsfähigkeit Europas stärkt. Legitimation steigern, Transparenz schaffen, Führungsstruktur klären - das Zukunftsnarrativ Europas, nach dem so sehnsuchtsvoll Ausschau gehalten wird, hätte damit wirklich einen greifbaren Inhalt.

Aber die Realität sieht anders aus. Die Geschichte dieses Vertrags ist nicht frei von ähnlichen Merkwürdigkeiten wie vor Jahrzehnten beim ersten Élysée-Vertrag. Der französische Präsident Macron rief die Notwendigkeit einer "Neugründung Europas" aus. Die deutsche Seite antwortete mit freundlichem, aber unverbindlichem Kopfnicken, und erst nachdem man die Attraktivität eines "Zweiten Élysée-Vertrages" erkannt hatte, kam es zu ernsthaften Regierungsgesprächen. Das Ergebnis besteht in einer pragmatischen Liste freundlicher Schritte. Getrennt davon sprechen die Parlamente - mit ähnlichen Freundlichkeiten als Ergebnis. Aber ist dies wirklich die Antwort auf die dramatischen Weckrufe aus den USA, aus China, aus dem Mittleren Osten, aus Brasilien, aus Afrika? Europa dämmert weiter vor sich hin.

Eigentlich hätten sich die Verantwortlichen auf deutscher und französischer Seite nur in die Archive begeben müssen, hätten dort auch die handschriftlichen Notizen lesen sollen. Dann hätten sie erkannt, wie visionär man damals eine neue deutsch-französische Kooperation plante. Sie hätten ein umfassendes Drehbuch für eine neue Erfolgsgeschichte gefunden.

Die elementare Herausforderung für Europa ist doch heute, einen aktiven Beitrag zur globalen Zivilisation zu liefern. Dazu bedarf es einer strategischen Elite, die diesen Beitrag erarbeitet und die operative Umsetzung dann organisiert. Es bedarf der weltpolitisch relevanten Instrumente in der Außen- und Sicherheitspolitik. Der so kreierte weltpolitische Akteur braucht dann dazu natürlich ein starkes innenpolitisches Fundament. Alles das könnte die Staatenunion von Deutschland und Frankreich liefern. Und es wäre noch viel plausibler als damals Anfang der 60er-Jahre.

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