Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Verheißung mit Nebenwirkungen

Europa hat bei Millionen Flüchtlingen unerfüllbare Erwartungen geweckt.

Von Rudolf G. Adam

Eine Million Flüchtlinge drängen nach Europa. Nicht Staaten bestimmen, welche Einwanderer sie aufnehmen, sondern Flüchtlinge bestimmen, welches Land ihnen Zuflucht gewährt. Der gewaltige Zuzug polarisiert die Europäische Union. Eine momentane Krise kann es erfordern, Gesetzesnormen temporär außer Kraft zu setzen. Diese Krise wird jedoch nicht schnell vorübergehen. Die Willkommenskultur hat auf beiden Seiten Erwartungen geweckt, die langfristig nicht erfüllbar sind. Spätestens wenn Abschiebungen einsetzen, wird die Euphorie verfliegen. Jede erfolgreiche Migration nach Europa löst zusätzlichen Sog aus. Syrien hatte eine Bevölkerung von 25 Millionen, fünf Millionen haben das Land bereits verlassen, acht Millionen sind Binnenflüchtlinge. in den übrigen Herkunftsländern wird die Zahl potenziell migrationswilliger Menschen auf zehn bis 20 Millionen geschätzt.

Humanität gebietet es, Verfolgten Zuflucht zu gewähren, nicht jedoch, sie in die Familie aufzunehmen. Staaten haben keine Wahl, wenn Menschen Zuflucht suchen; sie müssen jedoch auswählen, wenn es um dauerhaften Aufenthalt, also um Einwanderung geht. Europa kann Ankömmlinge nicht in Lagern wie vor Calais vegetieren lassen. Ungarns Regierung versucht, die geltende Rechtslage durchzusetzen - auch mit Zwangsmitteln. Ungarn, 1989 noch gepriesen, weil es seine Grenzen öffnete, wird jetzt angeprangert, weil es die Grenzen schließt. Langfristig werden die europäischen Staaten nicht umhinkommen, zu drastischeren Mitteln für ein funktionierendes Grenzregime zu greifen. Auch ein Einwanderungsgesetz setzt ein zuverlässiges Grenzregime voraus. Jahrzehntelang hat Deutschland gefordert, Grenzen ihren trennenden Charakter zu nehmen; die trennende Funktion ist jedoch das Wesen einer Grenze.

Quoten bewirken wenig: In Calais riskieren Migranten ihr Leben, um über eine scharf bewachte Schengen-Außengrenze zu gelangen. Um wie viel leichter lassen sich unkontrollierte Schengen-Binnengrenzen überwinden. Flüchtlinge riskieren alles, um an ihr Ziel zu gelangen; sie werden sich durch administrative Zuweisungen hiervon nicht abbringen lassen. Binnenquoten behandeln Symptome; dem Andrang wirken sie nicht entgegen. Nach Rechtslage muss ein Großteil der Zuzügler wieder abgeschoben werden - es können mehrere Hunderttausend werden. Asylverfahren werden sich hinziehen. Viele Flüchtlinge werden abtauchen oder ihre Identität verschleiern. Wenn Flüchtlinge aus Syrien leichter Bleiberecht erhalten, werden viele sich als Syrer ausgeben. Mit jeder Abschiebung holen wir nach, was wir jetzt vermeiden: Zwang und Härte.

Auch ein Einwanderungsgesetz setzt ein funktionierendes Regime an den Grenzen voraus

Weshalb soll sich jemand, dem Abschiebung droht, um Integration bemühen? Abschiebungsentscheidungen sollten umgehend getroffen und vollzogen werden; noch besser wäre es, jene, die ohne Bleibechancen sind, vom Kommen abzuhalten. Das heutige Migrationspotenzial übersteigt unsere Aufnahme- und Integrationskapazität. Abwehrmechanismen, die auf staatlicher Ebene versagen, werden innerhalb der Gesellschaft aktiv werden: Radikale Ablehnung weiteren Zuzugs, Nationalismus und gewaltbereite Überfremdungsangst werden zunehmen. Nationale Grenzkontrollen verlagern nur Probleme von den Außen- an Binnengrenzen. Zäune und Stacheldraht wenden den Flüchtlingsstrom nicht ab, sondern stauen ihn nur.

Europa hat drei Optionen: Aufnehmen, Abschieben oder Abweisen. Wenn Aufnahme und Abschieben an Grenzen stoßen, bleibt nur Abweisen. Wäre Europa bereit, dauerhaft Slums vor seinen Grenzanlagen zu ertragen? Die Zustände in Calais geben einen Vorgeschmack, wie dies aussehen könnte. Notwendig ist ein vierter Weg: Wir müssen den Ausreisewillen beeinflussen; Asyl- und Einwanderungsanträge müssen außerhalb der EU gestellt werden. Ein präventives Grenzregime muss verhindern, dass die Flüchtlinge allein durch ihre Zahl ein humanitäres Grenzregime überfordern. Der Grundsatz muss gelten: Hilfe innerhalb der Region; Hilfe, und nicht bloß Überlebenshilfe. Die Möglichkeit der Rückkehr sollte im Vordergrund stehen; Weiterreise zur dauerhaften Aufnahme in der EU nur nach summarischer Vorprüfung und realistischer Information über Aufnahmechancen und Abschieberisiko.

Die Hauptlast der Syrienkrise tragen die Nachbarländer Libanon, Türkei und Jordanien, teilweise sogar der Irak. Hier sollte die EU ihre Hilfe konzentrieren: Klimatisierte Container statt Zelte, Versorgung mit Nahrung und Wasser, Gesundheitsfürsorge, Schulen, Werkstätten, Ermutigung zur Selbstverwaltung. Die UN-Flüchtlingsorganisation hat in der Region Lager geschaffen mit dem Ziel, die Möglichkeit einer Rückkehr offenzuhalten. Hier sollten EU-Diplomaten mit Regionalerfahrung Anträge auf Asyl, Aus- oder Weiterbildung oder dauerhafte Aufnahme vorab auf Plausibilität prüfen. Danach stehen reguläre Verkehrsmittel offen; Schlepper lassen sich so umgehen. Wer dennoch an den legalen Wegen vorbei in die EU einreist, wird umgehend in ein solches Lager gebracht und auf die dortigen Wege verwiesen. Das bedeutet: Neben Notunterkünften in Europa müssen Nottransportkapazitäten für Rückführungen und Unterkunftskapazitäten in Lagern der Region gebaut werden.

Globalisierung bedeutet nicht nur Beweglichkeit von Gütern und Kapital, sondern auch von Menschen. Ist langfristig eine globalisierte Welt möglich, in der Lebensbedingungen in einigen Teilen 500 oder tausend Mal besser sind als in anderen? Medien verbreiten das Wissen um diese Unterschiede bis in die letzten Winkel. Wenn die begehrten Güter und die erforderliche Kaufkraft nicht zu den Menschen kommt, gehen sie zu ihnen.

Der Hauptstrom der Flüchtlinge kommt heute aus Ländern, in denen der Westen in den letzten 15 Jahren interveniert hat. Jede dieser Interventionen hat ungewollt kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verwerfungen hinterlassen. Wir bringen die Vision von europaähnlichen Lebensbedingungen; wenn diese ausbleiben, ist es verwunderlich, dass viele sie dort suchen, woher die Verheißung gekommen ist? Wir sollten behutsamer sein, wenn es darum geht, fremden Gesellschaften unsere Werte nahezubringen, bescheidener in unseren Zielen. Als Alternative zu Diktatur sind Chaos und Anarchie leider wahrscheinlicher als rechtsstaatliche Demokratie. Es ist leicht, militärische Operationen in Syrien zu fordern; es ist sehr schwer, solchen Operationen ein erreichbares Ziel zu setzen, das Rück- und Nebenwirkungen mit einkalkuliert. War es vielleicht voreilig, so früh und kategorisch eine Verständigung mit dem Assad-Regime zu verwerfen?

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Quelle:
SZ vom 17.09.2015
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