Außenansicht:Unser Amerikanischer Traum

Marcel Fratzscher

Marcel Fratzscher, 45, ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

(Foto: Daniel Naupold/dpa)

Eine Lehre aus der US-Wahl für Deutschland: Das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft einlösen.

Von Marcel Fratzscher

Wie groß muss die Verzweiflung der Amerikaner sein, dass sie einen Menschen wie Donald Trump zum Präsidenten gewählt haben? Die Entscheidung vom 8. November ist vor allem das Resultat wachsender sozialer Ungleichheit und des Scheiterns des American Dream: Eine Mehrheit der Amerikaner hat realisiert, dass ihr Ideal von Eigenverantwortung, Freiheit und Chancengleichheit nur noch eine Illusion ist. Sie klammern sich nun an das Versprechen von Trump, ihnen das zurückzugeben, was das Land stark gemacht hat. Wer jedoch glaubt, dies sei lediglich ein amerikanisches Phänomen, der irrt.

Die Wahlen in den Vereinigten Staaten haben gezeigt, wie tief die amerikanische Gesellschaft gespalten ist. Die wirtschaftliche Elite, Minderheiten, junge Menschen sowie die Bevölkerung an der Ost- und Westküste haben mit großer Mehrheit für Hillary Clinton gestimmt. Fast 62 Millionen Amerikaner, darunter zwei von drei weißen Männern, vor allem in der unteren Mittelschicht, selbst die Mehrheit weißer Frauen und viele Latinos, haben sich jedoch für Donald Trump entschieden, einen Kandidaten, der sich offen für Rassismus, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit ausgesprochen hat.

Heißt das, dass 62 Millionen Amerikaner rassistisch, sexistisch und fremdenfeindlich sind? Natürlich nicht. Die USA sind und waren immer ein Einwanderungsland, ihr Modell der Integration akzeptiert und schätzt die Unterschiede seiner Bürger mehr, als dies in fast jedem anderen Land auf der Welt der Fall ist. Viele Amerikaner haben für Trump gestimmt, weil das Grundversprechen des American Dream gebrochen wurde, wonach alle Menschen die Chance haben, mit ihrer eigenen Hände Arbeit für sich sorgen und ihre Träume verwirklichen zu können. Es ist nicht ein kultureller Konflikt, sondern in erster Linie der tiefer werdende soziale Konflikt, der Trump an die Macht gebracht hat.

Die Verzweiflung vieler Amerikaner ist verständlich. Immer mehr von ihnen fühlen sich abgehängt und haben ihre wirtschaftliche Selbständigkeit verloren. Die soziale Ungleichheit im Land hat massiv zugenommen. Die realen Einkommen der unteren 40 Prozent sind heute niedriger als noch vor 30 Jahren. Immer mehr Menschen wird klar, dass ihre Kinder und Enkel es nicht besser haben werden als sie selbst. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Verunsicherung und Angst nehmen zu. Die Mittelschicht ist stark geschrumpft, und die Polarisierung in der Gesellschaft ist gestiegen.

Anders als in Europa geht es der Mehrheit der Amerikaner aber nicht um mehr Staat und mehr Sozialleistungen. Im Gegenteil, sie wollen weniger Staat und mehr Eigenverantwortung. Ronald Reagan, für viele Republikaner immer noch die Verkörperung des amerikanischen Traums, fasste dieses Ideal einmal so zusammen: "Welches sind die meistgehassten Worte in der amerikanischen Sprache? 'Ich bin von der Regierung und hier, um zu helfen.'"

Die Wahl Donald Trumps ist das verzweifelte Klammern vieler Amerikaner an die Hoffnung, er möge ihnen ihren amerikanischen Traum zurückgeben. Diese Hoffnung wird enttäuscht werden. Aber es ist der richtige Zeitpunkt für ein grundlegendes Umdenken und einen Neustart. Eine große Erneuerung erfordert häufig eine tiefe Krise. Die Hoffnung ist, dass die Wahl Trumps ein Weckruf für Politik und Gesellschaft in den Vereinigten Staaten ist. Diese benötigen dringend ein weniger korruptes, ein transparenteres und inklusiveres politisches System. Dazu gehören eine längst überfällige Reform der Wahlkampffinanzierung und eine mehr an den Menschen ausgerichtete Wirtschaftspolitik.

Aber lehnen wir uns nicht zurück: Das Phänomen, das zur Wahl Donald Trumps geführt hat, existiert auch in Europa. Die Brexit-Entscheidung und auch der Aufstieg des Front National in Frankreich, von Cinque Stelle in Italien und der AfD in Deutschland sind Anzeichen eines zunehmenden Widerstands gegen das Establishment. Diesem Trend liegt eine tiefe Unzufriedenheit mit der sozialen Ungleichheit zugrunde.

Es geht nicht um Steuer- oder Rentengeschenke, sondern um mehr Eigenverantwortung

Wir Deutschen sind stärker vom amerikanischen Schicksal bedroht, als viele dies heute wahrhaben wollen. Was für die Amerikaner der American Dream ist, das ist für uns Deutsche die soziale Marktwirtschaft. Sie war das Erfolgsrezept für das deutsche Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist die Grundlage unseres Gesellschaftsvertrags. Sie umfasst jedoch nicht nur eine leistungsfähige Marktwirtschaft mit einem sozialen Sicherungssystem, sondern auch das Versprechen der Eigenverantwortung. Oder wie Ludwig Erhard es ausdrückte: "Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein."

Am Ideal der sozialen Marktwirtschaft scheitert Deutschland heute genauso, wie die USA an ihrem Traum scheitern. Die Mehrheit der Deutschen sieht in der sozialen Ungleichheit eines der größten Probleme unserer Gesellschaft. Die Ungleichheit von Vermögen, Einkommen und vor allem Chancen hat in den vergangenen 30 Jahren auch hierzulande deutlich zugenommen. Deutschland hat die höchste Ungleichheit bei privaten Vermögen in der Euro-Zone. Die realen Löhne des unteren Drittels und die Mittelschicht sind in den vergangenen 15 Jahren geschrumpft. Aufstiegschancen sind gering und Abstiegsängste ähnlich hoch wie in den USA.

Wer die Ungleichheit in Deutschland heute bestreitet, lebt in einer anderen Welt als ein großer Teil der Menschen in unserem Land. Die Politik reagiert falsch auf diese Herausforderung. Sie kann die soziale Ungleichheit und die zunehmende Unzufriedenheit nicht mit Rentenerhöhungen und Steuersenkungen und dem Versuch beantworten, die Menschen ruhigzustellen. Diese Strategie muss scheitern, denn sie löst das grundlegende Problem nicht. Sie verbessert weder die soziale Mobilität noch die Bildungs- und Arbeitsmarktchancen der Menschen. Stattdessen gehen sie zu Lasten von Investitionen, der Jungen und zukünftiger Generationen.

Die Politik muss mehr Menschen Chancen und Perspektiven eröffnen, durch Investitionen in ein besseres Bildungssystem, Infrastruktur und Innovation, in Aufstiegs- und in Berufschancen, besonders für Frauen, und in bessere Betreuungsmöglichkeiten für Kinder - kurzum: in die Zukunft der Gesellschaft. Der Weckruf der US-Wahlen gilt auch uns. Deutschland scheitert an seinem Ideal der sozialen Marktwirtschaft heute nicht weniger als die Vereinigten Staaten an ihrem amerikanischen Traum.

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