Außenansicht:Und jetzt?

Außenansicht: Peter Dabrock, 53, ist Vorsitzender des Deutschen Ethikrates und Ordinarius für Systematische Theologie (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Peter Dabrock, 53, ist Vorsitzender des Deutschen Ethikrates und Ordinarius für Systematische Theologie (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

(Foto: Ethikrat/R. Zensen)

Das Verfassungsgericht hat eine neue Geschlechterkategorie eingeführt. Die Gesellschaft braucht aber Zeit, den Beschluss umzusetzen.

Von Peter Dabrock

Historisch - dies Adjektiv, das sonst so oft nur Aufmerksamkeit erheischen will, für den in der vergangenen Woche veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes zur Personenstandsregelung trifft es zu. Karlsruhe führt kein "drittes Geschlecht" ein (was sollte das auch sein?), sondern verlangt, eine rechtliche Gleichbehandlung für "alle Personen" zu schaffen, "die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, aber auch nicht dauerhaft als 'geschlechtslos' registriert werden möchten". Der Beschluss erinnert schlicht an elementare grund-, ja menschenrechtliche Standards. Das auf der Menschenwürde aufruhende Recht, eine eigene Persönlichkeit ausbilden zu können, verknüpft er mit der geschlechtlichen Identität: Menschen sind eben leibliche Wesen. Und als solche stellt für uns Geschlechtlichkeit sowohl in der Selbst- wie in der Fremdwahrnehmung eine ganz entscheidende Lebensdimension dar. Geschlechtlichkeit bildet sich komplex aus, als Zusammenspiel von verschiedenen biologischen, keineswegs nur genetischen Prozessen, allgemeinen soziokulturellen Voraussetzungen wie individuellen psychischen Dispositionen. Zugleich schreiben die Menschen im Zusammenhang ihrer jeweiligen Lebenswelten ihr Verständnis geschlechtlicher Identität beständig mit fort.

Wenn Menschen rechtlich oder durch informelle Sozialpraktiken daran gehindert werden, eine eigene geschlechtliche Identität positiv zu entfalten, dann kann dies zu fatalen Konsequenzen führen. Es gibt einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen erhöhter Suizidrate und der Unterdrückung geschlechtlicher Identitätsbildung. Die chirurgischen oder hormonellen Praktiken der Vereindeutigung des Geschlechts gehören zu den dunklen, kaum aufgearbeiteten Horrorstücken nicht nur bundesrepublikanischer Geschichte.

Das Gericht hätte die Möglichkeit gehabt, der jetzt schon möglichen Praxis, gar keinen Geschlechtseintrag vornehmen, seinen verfassungsrechtlichen Segen zu erteilen. Das tat es zum Glück nicht. Denn diese Menschen wollen eben kein "Nichts", sondern ein "Anderes" sein.

Zwar mögen wenige vom Beschluss direkt betroffen sein. Abgesehen davon, dass das Kriterium der Quantität für Fragen der Menschenwürde sowieso nicht zählt, kommt dem Beschluss eine ganz grundsätzliche Bedeutung für unsere Gesellschaft zu. Liest man ihn genau, weist er weit über den verhandelten Fall hinaus. Immer wieder betont die Begründung nämlich ausdrücklich: Geschlecht darf nicht einfach biologisch bestimmt werden; vielmehr zählt die persönliche Einschätzung der Betroffenen. Aufgrund der hohen Vulnerabilität von Personen, deren Selbstwahrnehmung sich dem klassischen Geschlechterdual entzieht, müssen sie besonders vor Diskriminierung und Stigmatisierung geschützt werden.

Wer sich schon jetzt schwer damit tut, Pluralität auszuhalten - der dürfte sich nun noch schwerer tun

Trifft all das zu, ist die Schlussfolgerung fast zwingend, dass der Beschluss nicht nur auf Intersexuelle anzuwenden ist, die von dem klassischen Geschlechterdual vor allem biologisch abweichen. Vielmehr müssen Konsequenzen auch für andere nicht-heteronormative Geschlechtsidentitäten - oft unter den Sammelbegriff "queer" gebracht - gezogen werden. Wenn Gleichbehandlung nicht zu Gleichmacherei führen darf, dann sollten sich auch jene Menschen, die sich als "queer" begreifen, einer dritten Geschlechtskategorie zuordnen dürfen.

Mit diesem Beschluss hat sich das Gericht nicht als Gesetzgeber aufgespielt. Es hat diesen daran erinnert, den menschen- und grundrechtlichen Rahmen seines Handelns bei der Geschlechtszuordnung zu beachten und entsprechend nachzubessern. Karlsruhe lässt Berlin innerhalb dieses Rahmens Freiheit, wie das Bild auszumalen ist. Mahnung wie Gestaltungsauftrag machen deutlich, dass unser Gemeinwesen aus einem komplexen wie fragilen Ineinander von Rechtsstaat, Demokratie als Politikform und Zivilgesellschaft besteht. Das Recht schreibt eben dem Gesetzgeber nicht einfach vor, was zu tun ist. Das Volk, das, anders als die neuen Vereinfacher behaupten, keineswegs ein Monolith ist, darf in seiner politischen Willensbildung nicht einfach verfassungsrechtliche Standards unberücksichtigt lassen. Die Weiterentwicklung des Rechts wie die Politikgestaltung leben davon, dass sie immer wieder in einem zivilgesellschaftlichen Resonanzraum stattfinden. Dieser reicht weit über Recht und Politik hinaus, prägt diese aber ebenso, wie er von ihnen geprägt wird. Nur wo diese drei Größen aufeinander bezogen bleiben, ohne ineinander aufzugehen, kann ein komplex wie plural verfasstes Gemeinwesen auf Dauer Bestand haben.

Erkennbar ist diese Balance gegenwärtig massiv in Frage gestellt, wenn nicht gefährdet. Wer heute von der "Krise des Wir" redet, darf nicht so tun, als habe es dieses "Wir" je so eindeutig gegeben. Vielmehr geht es wohl um die Sorge, dass der Wille, die Pluralität in wechselseitiger Achtung gemeinsam auszuhalten, erodiert. Es sind ebenso soziale wie kulturelle Gründe, die zu den bereits jetzt harten Identitätskämpfen geführt haben und die wohl - da muss man kein großer Prophet sein - in absehbarer Zukunft kaum abklingen werden; im Gegenteil. Solche Identitätskämpfe werden dann oft symbolisch auf dem Rücken besonders wehrloser Gruppen ausgetragen.

All dessen eingedenk, bietet der bahnbrechende Karlsruher Beschluss leider alle Möglichkeiten des identitär motivierten Missbrauchs. Natürlich kann man fordern, ihn umstandslos und radikal umzusetzen. Die Forderung, am besten gleich alle rechtlichen Geschlechtsangaben aufzugeben, schallte schnell durch die medialen (Teil-)Öffentlichkeitsräume. Aber genauso wird die Breite der Zivilgesellschaft nicht ernst genommen. Gerade auch, wenn man das menschen- und grundrechtliche Anliegen einer dritten Geschlechtskategorie teilt, muss man doch sehen, dass man für den Zusammenhalt einer Gesellschaft möglichst viele Menschen mitnehmen muss. Die überragende Zahl der Menschen lebt aber nun einmal heterosexuell und versteht auch diese Geschlechtsidentität mit den damit verbundenen Attraktionen wie Intimitäten als Merkmal ihrer Persönlichkeit. Augenscheinlich berührt das Thema viele Ängste und produziert Unsicherheiten. Auch für all diese Menschen gilt: keine Gleichmacherei - Würdigung des Unterschiedes bei gleichzeitiger Gleichbehandlung. Ganz offensichtlich muss sich deshalb unsere Gesellschaft Zeit lassen, den unabweisbaren Karlsruher Impuls umzusetzen und keine Schnellschüsse abzugeben. Nur auf diesem Wege wird das Wir nicht noch mehr beschädigt, sondern kann umgekehrt vielleicht sogar wachsen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: