Außenansicht:Und die Mehrheit sieht man nicht

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Reyhan Şahin, 38, hat über die "Bedeutung des muslimischen Kopftuchs in Deutschland" promoviert. Als Rapperin ist sie unter dem Namen "Lady Bitch Ray" bekannt. (Foto: Carlos Fernandez Laser)

Muslime gelten in Deutschland entweder als gefährlich oder als arme Opfer. Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun.

Von Reyhan Şahin

Wird in Deutschland über den Islam und Muslime diskutiert, werden zwei Extreme sichtbar. Entweder stellt "der" Islam eine Gefahr dar und soll in Richtung des "christlichen Abendlandes" assimiliert werden. Oder der Islam gilt als Teil der deutschen Gesellschaft, dann werden die fehlenden Mitbestimmungsrechte von Muslim*innen angeprangert und antimuslimische Rassismen. Muslime sind also entweder Täter oder Opfer. Zwischentöne, die das muslimische Leben realistisch abbilden, sind leider selten zu vernehmen. Die deutsche Medienwelt hat das weitgehend negative Bild des Islams mitgeprägt, der europaweite Rechtsruck und der Machtgewinn der AfD mit ihrer undifferenzierten Sicht auf Islam- und Migrationsthemen trägt ebenso zur Verhärtung der Fronten bei.

Die Mehrheit der Nichtmuslime ordnet sich weitgehend einem der beiden Lager zu - eine Mehrheit lehnt "den" Islam als gewalttätige und frauenfeindliche Religion ab; eine Szene von eher überschaubaren islamfreundlichen Liberalen bis Linksliberalen sieht Musliminnen und Muslime als schutzbedürftige Opfer von antimuslimischen Ressentiments und Rassismen an. Ähnlich polarisiert ist auch die innerislamische Debatte. Für die so genannten Islam-kritiker gibt es keinen friedlichen Islam, für sie ist diese Religion vielmehr genuin politisch und aggressiv, für manche nicht einmal eine Religion, sondern eine Ideologie - dass manche Vertreter dieser Richtung nun im Fahrwasser rechter Strömungen unterwegs sind, macht die Debatte nicht einfacher. Auf der anderen Seite stehen konservative bis reaktionäre Gruppen, die überwiegend in den muslimischen Verbänden und Organisationen engagiert sind, die ihr Islamverständnis verteidigen.

Alle reden sie vom und streiten sie um "den Islam" - und je lauter und polarisierter der Streit wird, um so weniger ist klar, was damit gemeint ist.

Entsprechend wissen die meisten nichtmuslimischen Menschen, mit denen ich rede, viel zu wenig über den Islam und seine Diversität. Sie beteuern zwar, dass es "die" Muslime nicht gebe und nicht alle Musliminnen und Muslime gleich seien. Dennoch bin ich überwiegend damit beschäftigt, innerislamische Unterscheidungen zu erklären: Es gibt Sunniten, Schiiten, Aleviten, dazu die ethnischen Gruppierungen und die religiösen Bewegungen innerhalb der islamischen Konfessionen, zum Beispiel die Ahmadiyya oder die Habeshiya-Gemeinde. Ich muss erklären, dass die muslimischen Verbände wie die türkisch-staatliche Ditib oder die Milli Görüş abhängig sind vom türkischen Staat und der türkischen Politik, dass in manchen Gruppierungen der Islamverbände islamistische Ideologien vertreten werden. Man muss kritisch auf die muslimischen Verbände schauen, ohne "den Islam" zu verteufeln - die Wahrheit liegt, wie so oft, zwischen diesen Extrempositionen.

Die konservativen Verbände vertreten nur eine Minderheit. Die radikalen Islamkritiker aber auch

Als muslimische Alevitin fühle ich mich weder von der Deutschen Islamkonferenz noch von muslimischen oder alevitischen Verbänden vertreten. Ich bin nicht die Einzige, die das so sieht. Es gibt 500 000 Alevitinnen und Aleviten in Deutschland, das sind ungefähr 13 Prozent der muslimischen Menschen in Deutschland. Konservative Muslime sehen die Alevit*innen nicht als richtige Muslime an und verbreiten Vorurteile über sie. Es ist aber auch unter Aleviten umstritten, ob sie sich als Muslime verstehen oder nicht - ein großer Teil tut das, eine Minderheit dagegen nicht. So fühlen sich viele muslimische Alevitinnen und Aleviten weder zu den alevitischen Gemeinden noch zu den sunnitischen Organisationen in Deutschland zugehörig und bleiben damit stimmlos und unsichtbar. Alevitisch-feministische Stimmen fehlen ohnehin.

Aber auch viele sunnitische Muslime in Deutschland beschweren sich mittlerweile darüber, dass sie sich in keiner Weise von muslimischen Gemeinden oder Vertretern repräsentiert fühlen. Dies hängt auch damit zusammen, dass nur ein bestimmter Teil der Muslime den Begriff Muslim auf sich bezieht, die Mehrheit nicht. Leider erheben zu wenige dieser Menschen politisch ihre Stimme. Die von der Bundesregierung ausgehenden Dialoge und Programme erreichen somit nur eine bestimmte Gruppe von Musliminnen und Muslimen, nämlich entweder jene, die in Verbandsstrukturen sozialisiert sind - oder die Islamkritiker*innen. Der große Querschnitt der Muslim*innen in Deutschland wird bisher kaum repräsentiert.

Auch die Frauen- und Queer-Rechte kommen hierbei zu kurz. Islampatriarchalische Strukturen muslimischer Verbände und Moscheegemeinden werden noch viel zu selten hinterfragt - es fehlt aber auch die Reflexion rechtspopulistischer, pauschalisierend islamkritischer Herangehensweisen, auch von feministischer Seite. Der Einbezug von islamfeministischen Abhandlungen über queere Orientierungen oder Homo- und Transsexualität, über Frauenrechte, das Kopftuch oder bi-konfessionelle Ehen, über Sexualität, Geschlechterverhältnisse oder die Arbeitsteilung innerhalb der Ehe sowie kritische Auseinandersetzungen mit der gängigen, männerzentrierten Auslegungen des Korans und der Hadithen stehen noch ganz am Anfang. Es braucht überzeugende Musliminnen und Muslime, die den jungen Frauen und Männern in den Jugendorganisationen, Hochschulbündnissen und Frauenflügeln der muslimischen Verbände ein kritisches Bewusstsein gegenüber reaktionären Ideologien vermitteln. Daran fehlt es auch noch im deutschen Hochschulsystem: Die wenigen wirklich kritischen Forscherinnen und Forscher in religions- und islamwissenschaftlichen sowie theologischen Fakultäten kann man an einer Hand abzählen.

Für die Zukunft wären die Neukonzipierung von ideologiekritischen Lesarten des Islam- und Koranunterrichts nötig, die Auseinandersetzung mit politisch motivierten bis reaktionären Ideologien und Islamauslegungen, mit der bei jungen Muslim*innen populären Muslimbruderschaft oder auch (Reform-)Salafismus. Es braucht Konzepte gegen Antisemitismus, Antialevismus, Kurdenhass, gegen den innerislamischen Rassismus gegen schwarze Musliminnen und Muslime. Es braucht die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus und dem antimuslimischem Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft und den Umgang mit der Islamkritik.

Zwölf Jahre nach dem ersten Treffen der Deutschen Islamkonferenz ist es an der Zeit, dass ihre Ergebnisse nicht nur in einzelne muslimische Verbände, Organisationen und Moscheevereine hineingetragen werden, sondern auch die Mehrheit der hier lebenden Menschen muslimischen Backgrounds erreichen.

© SZ vom 05.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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