Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Schenken statt kämpfen

Vor 70 Jahren wurde der Marshallplan verkündet. Aus seinem spektakulären Erfolg sollte man heute lernen.

Von Thomas Kleine-Brockhoff

Siebzig Jahre nach seiner Verkündung hat der Marshallplan Konjunktur. Jeder will einen - ob für Afrika oder Griechenland, für französische Vorstädte oder sonst irgendeine bedürftige Region. Marshallplan klingt nach Geldregen, Aufstieg und Wohlstand; nach reichem Onkel, der Gutes tut; nach dem Amerika, das wir mögen und wiederhaben wollen.

Natürlich weiß jeder, der einen Marshallplan fordert, dass es ihn nicht geben wird. Die Bedingungen, die ein so gewaltiges Unternehmen zum Aufbau Europas möglich machten, wird sich niemand wünschen: einen nach Jahren des Krieges verwüsteten Kontinent und einen heraufziehenden neuen Großmachtkonflikt. Und doch hat die ständige Marshallplan-Beschwörung eine wichtige Funktion. Sie symbolisiert den fortlebenden Wunsch nach einer kooperativen Welt, nach Lösungen im Geiste internationaler Zusammenarbeit. Der Hilfsplan für Europa, den der amerikanische Außenminister George Marshall am 5. Juni 1947 an der Harvard-Universität vorstellte, ist dafür bis heute eine Art Urdokument. Gerade in Zeiten, in denen nationale Ermannung wieder etwas gilt, kann der Marshallplan als Quell der Inspiration für Internationalisten dienen.

Da ist erst einmal die schiere Dimension des Hilfsprogramms, das 16 europäischen Ländern aus der Nachkriegs-Misere helfen sollte. Es kostete allein im Jahr 1949 etwa zwölf Prozent des amerikanischen Budgets. Viel hilft viel, lautete damals die Devise. Das war nicht leicht durchzusetzen, schon gar nicht nach einem entbehrungsreichen Krieg, den die Amerikaner nur noch hinter sich lassen wollten.

Doch prominente Politiker machten sich auf und bereisten das Land, mit Auto und Zug, manchmal monatelang, um vor Minenarbeitern und Handelsverbänden, Rotary-Clubs und Frauenvereinigungen für den Plan zu werben. Wer das Geld der Steuerbürger in andere Länder schicken will, darf nicht automatisch auf Zustimmung hoffen, nicht in Amerika und auch nicht irgendwo sonst. Umgekehrt muss niemand Angst vor Meinungsumfragen haben. Bürger wollen und müssen erst überzeugt werden, dass sich Investitionen in eine kooperative internationale Ordnung langfristig lohnen. In 70 Jahren hat sich nicht viel geändert.

Heute erscheint es geradezu unglaublich, besonders aus deutscher Sicht, dass die Amerikaner damals darauf bestanden, keine Kredite auszureichen, sondern das Geld überwiegend zu verschenken. Sie argumentierten, die Empfängerländer könnten Kredite zumeist ohnehin nicht bedienen. Auf der Rückzahlung zu bestehen, gefährde den Erfolg der ganzen Hilfsaktion. Diese Mischung aus Generosität und ökonomischer Pragmatik hat den Amerikanern jahrzehntelang Zuneigung und Loyalität erkauft. Was es hingegen bedeutet, ohne Dankbarkeit der lokalen Bevölkerung auskommen zu müssen, erfahren die Deutschen gerade als Krisenhelfer in Griechenland.

Die Amerikaner verlangten Reformen, Freihandel und Zusammenarbeit in Europa

Nicht, dass die Amerikaner sich bedingungslos von ihrem Geld getrennt hätten. Sie machten Reformen, Freihandel und europäische Zusammenarbeit, sogar unter Gegnern im Zweiten Weltkrieg, zur Voraussetzung der Hilfe. Bald entstand die Organisation zu Abwicklung des Marshallplanes (OEEC), und so waren es zuerst die Amerikaner, nicht die Europäer, die institutionelle Voraussetzungen für den späteren europäischen Einigungsprozess schufen.

Der Marshallplan war Entwicklungshilfe, und er war doch so viel mehr. Er wollte den ökonomischen Kollaps weiter Teile Europas abwenden und damit auch die erwartbaren Wahlsiege kommunistischer Politiker. Er legte die Grundlage für die Allianz gegen den sowjetischen Diktator Josef Stalin. Und er fußte auf der zeitlosen Einsicht, dass politische Allianzen nur dauerhaft sind, wenn die Verbündeten sich zugleich langfristige wirtschaftliche Vorteile versprechen.

Die Vereinigten Staaten erlebten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den ersten Höhepunkt ihrer globalen Macht. Sie waren wirtschaftlich und militärisch dominant. Und doch zogen sie es vor, sich freiwillig in ein Netz von Normen und Institutionen einzubinden, das ihre Macht einhegte. Diese Selbstbeschränkung war eine America-First-Politik der klügeren Art. Denn das amerikanische Machtinteresse wurde niemals verleugnet. Mit schwachem Fußabdruck und in Abstimmung mit anderen war Macht allerdings einfacher und preiswerter zu erhalten. Darin bestand das eigentliche Geheimnis der amerikanischen Stellung in der Welt. Es ist eine Erkenntnis, die immer wieder neu gelernt werden will, auch von Amerikanern.

Heute wird gern und zu Recht der Verfall jener liberalen Weltordnung beklagt, die aus einem Netz von Normen, Regeln und Institutionen besteht, in deren Zentrum die Demokratie und die Achtung der Menschenwürde stehen. Die Gegner dieser Ordnung, so erscheint es manchmal, sind in der Offensive. Wer aber den Anfängen der Nachkriegsordnung nachspürt, stellt fest, dass diese Ordnung niemals ohne Herausforderer war. Ja, der Marshallplan, wiewohl theoretisch offen für Osteuropäer, wurde in Abgrenzung zu einem anderen Ordnungsmodell durchgesetzt, dem Kommunismus. Die Schwierigkeit der heutigen Lage zu beklagen, geht also an den historischen Erfahrungen vorbei. Ein wenig Konkurrenz ist gar nicht schlecht.

Dass die Vereinigten Staaten die Allianz mit den Demokratien Europas suchen, ist nicht selbstverständlich. Amerikanische Präsidenten versuchen immer wieder, Probleme unter Gleichen zu lösen, in einem Konzert von Großmächten und über die kleineren Staaten hinweg. Franklin D. Roosevelt stellte sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges "vier Polizisten" vor, die in der Welt patrouillieren würden. Neben den Vereinigten Staaten sollten das China, die Sowjetunion und Großbritannien sein. Jeder Nation wäre eine Einflusszone zugeordnet worden. Am Ende scheiterte dieses Konzept am Misstrauen zwischen den Demokratien und den Autokratien im Klub der Großmächte.

Erst mit dem Scheitern des Konzepts der "vier Polizisten" war der Weg frei für den westlichen Klub der Demokratien, und damit für Marshallplan und Gründung der Nato. Seither haben amerikanische Präsidenten immer wieder versucht, eine Großmacht-Achse zu bilden. So erklären sich die ständigen "Neustarts" der amerikanischen Russland-Politik, zuletzt unter George W. Bush und Barack Obama. Das Ergebnis ist bislang immer dasselbe gewesen. Nun versucht es mal wieder ein neuer Präsident, Donald Trump.

Der Marshallplan, soviel ist gewiss, wird bleiben - als Mahnung , das Richtige zu tun, auch wenn es schwer ist.

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SZ vom 08.06.2017
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