Außenansicht:Rollentausch

Portrait de l ecrivain italien Mario Fortunato 2014 Photographie AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT PUBLICAT

Der Schriftsteller Mario Fortunato, 59, lebt, nach Jahren in London und Berlin, wieder in Rom.

(Foto: imago)

Europas Linke ist bürgerlich - die Rechten dagegen sind nah dran an den Stimmungen der Armen. Das erklärt ihren Erfolg.

Von Mario Fortunato

In den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts sprach man oft vom Ende der Ideologien. Tatsächlich waren Faschismus und Nazismus schon länger untergegangen und überlebten lediglich in einer Reihe versprengter extremistischer und nostalgischer Grüppchen. Allerdings triumphierte in derselben Zeit in Washington (mit Reagan) und in London (unter Thatcher) ein übermütiger Konservativismus, der so effektiv wie schnell das neue Haus des entfesselten Kapitalismus errichtete. Was hingegen wirklich unterging, das war der Kommunismus - und die Metapher des Bauwerks scheint hier umso passender, als es die Berliner Mauer war, die den historischen Ereignissen nicht standhielt und mit dem 9. November 1989 buchstäblich in Stücke ging.

Dreißig Jahre später hat es den Anschein, als greife das ideologische Fieber in Europa aufs Neue um sich. Das isolationistische England hat sich entschieden, die EU zu verlassen, mag es auch mancher inzwischen bereuen. Der Nationalismus ist groß im Kommen - siehe den unverständlichen Fall Katalonien. Bei vielen Wahlen triumphieren populistische und xenophobe Bewegungen; die sozialdemokratischen Parteien erleben fast überall ihren Niedergang, selbst wo sie noch an der Regierung sind. Ich habe den Eindruck als sei an die Stelle der Krise der Ideologien, die wir vor ein paar Jahrzehnten erlebten, ein Rollentausch der Ideologien getreten. Die Rechte hat sich mehr oder weniger bewusst einige ehemals linke Slogans angeeignet, während sich die Linke mehr und mehr mit der herrschenden Elite identifiziert, die traditionell auf der politisch anderen Seite beheimatet ist.

Beginnen wir mit der europäischen Idee. In der Vergangenheit waren die kontinentalen linken Parteien fast geschlossen gegen die europäische Integration. Heute ist es vor allem die Rechte, die den Einigungsprozess verschleppt, und zwar ganz besonders in ehemals kommunistischen Ländern wie Ungarn, Polen und Tschechien, welche derzeit von Parteien und Politikern dominiert werden, die ich offen gesagt als Faschisten betrachte. Die Linke hingegen ist überall proeuropäisch.

Wenn wir darüber hinaus die Wahlergebnisse der großen Städte auf dem Kontinent analysieren, stellen wir fest, dass in den wohlhabenderen Vierteln progressive Kandidaten und Parteien gewählt werden, während in den urbanen Peripherien und auf dem Land die rechts stehenden Formationen triumphieren; das englische Referendum ist dafür ein eklatanter Beleg. Das ist nicht weiter erstaunlich: In Italien zum Beispiel wendet sich die Demokratische Partei von Matteo Renzi idealerweise an die Mittelschicht und das wohlhabende Bürgertum statt an die wirtschaftlich Schwächeren, die von der rechten Lega Matteo Salvinis viel besser erreicht werden. Um gar nicht erst von den Gruppierungen jener Linken zu sprechen, die eine Regierungsverantwortung scheuen: Es handelt sich meist um realitätsferne Kräfte mit äußerst geringer Verankerung in der Gesellschaft, die zur Marginalität verurteilt sind.

Die Flüchtlinge verlängern die Schlangen im Wohnungsamt - die Sozialdemokraten gucken weg

Ich habe den Eindruck, als sei die Rechte heute viel näher dran an den Stimmungen und Frustrationen der sozial Schwächeren. Ich will damit nicht sagen, dass sie imstande wäre, diese Stimmungen in politische Vorschläge und zielgerichtetes Handeln zu übersetzen - aber anscheinend vermag sie den gesellschaftlich Ausgegrenzten aufmerksamer zuzuhören als die Linke. Und es ist gewiss kein Zufall, dass die sozialistischen Parteien in fast allen europäischen Ländern, die sie in den vergangenen Jahren nicht selten regiert haben, so gut wie verschwunden sind. Man denke nur an die Sozialistische Partei Frankreichs, deren Vorsitzender, François Hollande, noch 2012 zum Präsidenten gewählt wurde, während ihr Kandidat bei der letzten Präsidentschaftswahl nicht einmal mehr in die Stichwahl kam. Oder an Großbritannien, wo die Labour Party nach den Regierungen Tony Blairs fast in die Bedeutungslosigkeit gestürzt war. Dass sie heute wieder besser dazustehen scheint, hat vielleicht weniger mit ihrem Vorsitzenden, Jeremy Corbyn, zu tun, als mit der politischen Torheit der britischen Konservativen, insbesondere der Theresa Mays. Und man denke nicht zuletzt an Deutschland, wo die starken Stimmenverluste der SPD meines Erachtens nicht so sehr der großen Koalition mit der CDU geschuldet sind, als den Fähigkeiten Angela Merkels, ihren sozialdemokratischen Ministern die Show zu stehlen.

Jenseits aller Machtfragen muss man sich die konkreten Themen ansehen, die die Gesellschaft bewegen. Und das waren in den vergangenen Jahren schlechterdings die Arbeit (oder besser, nach der Krise von 2007, ihre zunehmende Entwertung) und die Einwanderung. Die Entwertung der Arbeit geht sicherlich auf die Finanzkrise zurück, wurde aber von den regierenden sozialdemokratischen Parteien auch verstärkt. Sie verhielten sich in dieser Sache zumindest ambivalent: So ergriff etwa in Italien die Regierung von Matteo Renzi einerseits eine gerechte soziale Maßnahme, indem sie das Einkommen von zehn Millionen Italienern in der Höhe von 1500 Euro monatlich um 80 Euro pro Monat erhöhte, andererseits wurden die Arbeitsverträge in neoliberaler Weise flexibilisiert.

Bei der Einwanderung wiederum hat sich die Linke von einer vagen und allgemeinen Großzügigkeit leiten lassen, die vom Evangelium inspiriert zu sein scheint - man muss diejenigen willkommen heißen, die vor Krieg und Armut fliehen, und den Migranten zu einem Domizil und einer anständigen Arbeit verhelfen. Das ist gewiss ein großartiger Gedanke. Dumm nur, dass sich mit den Flüchtlingen lediglich die Schlangen der Wohnung- und Arbeitsuchenden verlängert haben, soweit nicht, schlimmer als das, an den Rändern der Städte und all jenen Orten der Not und Armut unseres sozialen Gefüges explosive Situationen entstanden sind. Und wer hat auf die Proteste der ärmsten Europäer reagiert? Erneut die Rechte, nicht zuletzt die extreme. Weit entfernt davon, vernünftige Antworten auf die Probleme zu geben, schlachtete sie deren gefährliches Potenzial lieber aus, während die Linke es vorzog, wegzugucken.

Hierin liegt der Grund, warum ich glaube, dass wir uns in Zeiten eines ideologischen Rollentauschs befinden: Die Rechte hat ihre alten sozialen Wurzeln wiederentdeckt - der Faschismus Mussolinis ging aus einer Fraktion der Sozialistischen Partei hervor. Die Linke - der Sachzwang lässt grüßen - hat die Rolle des alten Liberalismus übernommen. Es ist dieser Rollentausch, befürchte ich, der populistischen und nationalistischen Kräften Auftrieb gibt. Und uns schlimmstenfalls zu neuen Formen des Autoritarismus führt.

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