Außenansicht:Riskantes Schulterzucken

Angriffen auf die Demokratie in Ungarn oder Polen darf die deutsche Öffentlichkeit nicht stumm zusehen.

Von Nils Meyer-Ohlendorf

Angriffe auf die Demokratie in EU-Mitgliedstaaten haben in den vergangenen Wochen und Monaten eine breite Berichterstattung in den Medien gefunden. So wurde beispielsweise über den Umbau der polnischen Justiz oder die Beschränkungen der Zivilgesellschaft in Ungarn viel berichtet. EU-Institutionen haben eindeutig und oft auf bislang beispiellose Weise auf diese Angriffe reagiert. Die Europäische Kommission hat zum ersten Mal ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 auf den Weg gebracht. Sie hat verschiedene Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Das Europäische Parlament hat eindeutig Stellung bezogen. Die Venedig-Kommission des Europarats hat diese Entwicklungen in klaren Worten kritisiert; sie verglich einige Änderungen des polnischen Gerichtswesens mit dem sowjetischen Rechtssystem.

Aber die Reaktionen in Deutschland bleiben lau. Man findet das alles zwar nicht schön, aber irgendwie scheint es auch nicht unser Problem zu sein. Schulterzucken und ein Hinweis auf die "politische Kultur in Osteuropa" sind in der Regel die Reaktion. Die Europäische Kommission erhält Unterstützung im Allgemeinen, aber kaum im Konkreten. In manchen Fällen bleibt es nicht einmal bei einem Schulterzucken, mitunter kommt es zum Schulterschluss zwischen Teilen der deutschen Öffentlichkeit und den Regierungen in Ungarn oder Polen: Die CSU hofiert Orbán.

Die Indifferenz und Lustlosigkeit großer Teile der deutschen Öffentlichkeit sind hochproblematisch und riskant. Demokratieprobleme in anderen EU-Mitgliedstaaten sind nicht deren innere Angelegenheit. Sie sind nicht nur ein fundamentales Problem für die betroffenen Staaten, sondern aus drei Gründen auch für Deutschland und alle anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Der erste Grund betrifft die demokratische Legitimität von EU-Entscheidungen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil festgestellt, dass die demokratische Verfasstheit aller Mitgliedstaaten eine Voraussetzung für die EU-Mitgliedschaft Deutschlands ist: "Die Quelle der Gemeinschaftsgewalt und der sie konstituierenden europäischen Verfassung im funktionellen Sinne sind die in ihren Staaten demokratisch verfassten Völker Europas". Dies ist eine zwingende Argumentation. Denn die EU erlässt Gesetze, die Vorrang vor nationalem Recht haben und oft unmittelbar in den Mitgliedstaaten gelten. Aus diesem Grund müssen Entscheidungen der EU demokratisch legitimiert sein. Die demokratische Legitimität von EU-Entscheidungen beruht in erster Linie auf dem demokratisch gewählten Europäischen Parlament und dem Rat, der sich aus demokratisch gewählten Regierungen zusammensetzt. EU-Entscheidungen würden also illegitim, wenn undemokratische Regierungen Teil des Gesetzgebungsprozesses werden.

Bislang tut man so, als ginge die politische Kultur in Osteuropa Deutschland nichts an

Es entsteht außerdem ein Demokratieproblem, wenn Mitgliedstaaten Wahlen zum Europäischen Parlament nicht im Einklang mit geltendem Recht abhalten, wie die OSZE es etwa für die jüngsten Parlamentswahlen in Ungarn festgestellt hat. Kurz: Demokratieprobleme in den Mitgliedstaaten kontaminieren die Rechtsetzung in der EU und untergraben deren demokratische Legitimität.

Der zweite Grund hängt mit dem ersten zusammen. Es ist der EU-Binnenmarkt. Er ist von überragender Bedeutung für die deutsche Wirtschaft. Deutsche Unternehmen haben 2017 Waren im Wert von 749 Milliarden Euro in die EU exportiert. Das sind 60 Prozent des deutschen Handelsvolumens. Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen von diesem Binnenmarkt ab und deutsche Unternehmen beschäftigen mehr als drei Millionen Menschen in EU-Mitgliedstaaten. Deshalb loben fast alle politischen Parteien in Deutschland den Binnenmarkt.

Aber eines wird dabei oft vergessen: Wenn Gerichte gleichgeschaltet werden, Korruption verbreitet ist und Medien nicht mehr frei sind, dann leidet auch ein Investitionsstandort. Im Binnenmarkt der EU, in welchem die Wirtschaften aller Mitgliedstaaten äußerst eng verwobenen sind, kann das negative Auswirkungen auf alle haben. Hinzu kommt, dass der Binnenmarkt mehr ist als die vier Grundfreiheiten; er besteht auch aus einer Vielzahl von Regeln. Diese Regeln sollten von demokratisch legitimierten Regierungen beschlossen werden. Mit anderen Worten: Zweifel an der Legitimität und Attraktivität des EU-Binnenmarktes und seiner Regeln gefährden auch den Wohlstand Deutschlands.

Der dritte Grund betrifft Rechtsschutz und Rechtsdurchsetzung. Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, einen wirksamen Rechtsschutz in den vom EU-Recht erfassten Bereichen zu gewährleisten. Das bedeutet: Nationale Gerichte stellen sicher, dass die Rechte von EU-Bürgern nicht verletzt werden. Diese Garantie greift nicht mehr, wenn nationale Gerichte von der Exekutive abhängig sind und keinen fairen Prozess gewährleisten können. Dieses Problem ist kürzlich durch einen viel beachteten Fall vor dem Europäischen Gerichtshof illustriert worden: Der Gerichtshof entschied, dass ein Mitgliedstaat die Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls im Einzelfall verweigern kann, wenn dem Tatverdächtigen in seinem Heimatland kein faires Verfahren garantiert ist. Der Fall betraf Polen. Mangelnder Rechtsschutz behindert also Rechtsdurchsetzung, hier die Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls.

In eigenem Interesse muss die deutsche Öffentlichkeit Demokratieprobleme in Mitgliedstaaten zu einer eigenen Angelegenheit machen. Dies gilt für die großen gesellschaftlichen Akteure, wie Wirtschaftsverbände oder Gewerkschaften, aber auch für die breite Öffentlichkeit. Allgemeines Schulterzucken reicht nicht. Druck auf die eigene Regierung im Verfahren nach Artikel 7 gegen Polen oder für ein neues Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn sind Möglichkeiten, allgemeine Schwüre auf Demokratie konkret zu machen. Der Vorschlag der Europäischen Kommission, die Auszahlung von EU-Geld an die Einhaltung rechtsstaatlicher Verpflichtungen zu knüpfen, verdient mehr öffentliche Diskussion und Unterstützung. Für ein sicheres Investitionsumfeld müssen sich auch Unternehmen mehr für freie Gerichte, unabhängige Medien und faire Wahlen einsetzen, insbesondere dort, wo sie investieren. Parteien müssen bis in ihre Ortsverbände das Thema diskutieren. Mehr Solidarität mit Bürgern, die gegen Demokratieabbau auf die Straße gehen, wäre eine Möglichkeit für konkretes Handeln aus der Gesellschaft heraus. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass man die Dinge auf die leichte Schulter nehmen könnte.

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