Süddeutsche Zeitung

Legalisierung von Cannabis:Rausch ist Privatsache

Ein Verhalten zu entkriminalisieren heißt nicht, es zu befürworten. Cannabis muss freigegeben werden. Ein Plädoyer.

Von Philip von der Meden

Ein Albtraum der Drogen- und Gesundheitsbeauftragten scheint wahrgeworden zu sein: Sie sind mitten unter uns, ohne dass wir sie an ihrer Hautfarbe, verdreckten Füßen oder Rastalocken erkennen könnten. Zwischen zwei und vier Millionen Deutsche kiffen regelmäßig, der gelegentliche Joint ist in ihrem sozialen Umfeld kaum auffälliger als andernorts ein Feierabendbier, und fast niemand von ihnen hängt dazu auf Bahnhofsvorplätzen herum. Die meisten von ihnen kommen, wenn man den Ergebnissen der Sozialforschung glauben darf, sogar ganz gut klar mit ihrem Leben, sie funktionieren, auch wenn sie vom gelegentlich Rausch nicht ablassen mögen. Sie gebrauchen Cannabis, sie missbrauchen es nicht.

Natürlich ist Cannabis keine ungefährliche Droge. Es gibt sie, die lethargischen und die depressiven, die verplanten und die sozialphobischen Kiffer, deren Konsum schädliche Ausmaße angenommen hat. Nicht wegzudiskutieren sind insbesondere die Gefahren für Jugendliche, deren neuronale Strukturen besonders anfällig sind für hanfverklebte Synapsen. Niemand, der bei Sinnen ist, empfiehlt Cannabis deshalb als Bestandteil des Alltags, nicht für Erwachsene und erst recht nicht für Jugendliche.

Aber ein Verhalten zu entkriminalisieren heißt nicht, es zu befürworten. Das verkennen viele Kritiker einer liberaleren Drogenpolitik. Ihre Perspektive beschränkt sich auf die Unterscheidung zwischen sozial erwünschtem und sozial unerwünschtem Verhalten. Was sie für sozial unerwünscht halten, das sollte am besten auch strafbewehrt sein. Man muss an dieser Stelle nicht darüber streiten, wann der Konsum von Rauschmitteln sozial unerwünscht ist. Dass es Formen des Rausches gibt, die mit einem gelungenen Leben vereinbar sind, bestreitet ernsthaft niemand. Gerade diejenigen, die am heftigsten gegen eine Lockerung der betäubungsmittelrechtlichen Strafvorschriften polemisieren, scheinen selbst höchst selten einem zünftigen Besäufnis abgeneigt zu sein.

Die Vermutung liegt nahe, dass die unterschiedliche Behandlung von Cannabis und Alkohol eher der Ausdruck einer irrealen Angst vor einer Substanz ist, die im europäischen Kulturkreis erst sehr spät als Rauschmittel Verbreitung fand. Während der Besitz von Alkohol selbst dann noch sozial toleriert ist, wenn er zum täglichen Konsum Suchtkranker dient, ist der Besitz von Cannabis sogar dann strafbar, wenn er ausschließlich zum gelegentlichen Konsum eines freiverantwortlich handelnden Erwachsenen bestimmt ist.

Eines der Lieblingsargumente der Cannabis-Verächter lautet: Nur weil wir Alkohol nicht kriminalisieren, müssen wir nicht Cannabis entkriminalisieren, schließlich haben wir schon genug Probleme mit Alkohol - warum sich noch mehr Probleme ins Haus holen? An diesem Argument ist praktisch alles falsch. Wer den Besitz von Cannabis entkriminalisieren und den Handel unter staatliche Kontrolle stellen will, möchte ja gerade soziale Probleme lösen, die eine verfehlte Drogenpolitik über Jahrzehnte hinweg produziert hat. Die hinter dem Argument stehende These, dass die mit der jetzigen Gesetzeslage verbundene Kriminalisierung von Millionen Deutscher irgendwelche Probleme auch nur im Ansatz lösen könnte, kann im nüchternen Zustand niemand stehenlassen wollen.

Schon heute sind die Strafvorschriften des Betäubungsmittelrechts höchst ambivalent. Der Konsum verbotener Substanzen ist nicht strafbar, weil er Dritte nicht schädigt. Trotzdem ist jeder Umgang mit diesen Substanzen verboten, auch ihr bloßer Besitz. 1994 rang sich das Bundesverfassungsgericht gegen erheblichen Widerstand aus der Strafrechtswissenschaft noch gerade dazu durch, das strenge deutsche Betäubungsmittelgesetz im Grundsatz unangetastet zu lassen.

Während sich die meisten Teile der Entscheidung im Rahmen der üblichen juristischen Argumentation bewegten, blieben die Ausführungen zu der Frage, ob das strafbewehrte Verbot von Cannabis gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz verstößt, weil der weitaus gefährlichere Alkohol erlaubt ist, erschreckend lebensfremd. Die unterschiedliche Behandlung von Cannabis und Alkohol sei gerechtfertigt, weil Alkohol auch als Lebensmittel und zu religiösen Zwecken eingesetzt werde, mithin die Herbeiführung des Rausches nicht immer im Vordergrund stehe, urteilten die Verfassungsrichter. Der Gesetzgeber sehe sich vor das Problem gestellt, dass er den Alkoholkonsum "wegen der herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutschland und im europäischen Kulturkreis nicht effektiv unterbinden" könne.

Ihr Unwohlsein mit der Rechtslage konnten die Verfassungsrichter dann doch nicht ganz abschütteln. Sie wurschtelten sich zu einer Lösung durch, die bis heute die Praxis der Strafverfolgung prägt: Der Besitz geringer Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch ist danach bis heute strafbar, er soll aber normalerweise nicht verfolgt werden. Trotz der eindringlichen Mahnung der Verfassungsrichter, es müsse angesichts des marginalen Schuldvorwurfs beim Besitz geringer Mengen eine einheitliche Praxis der Einstellung von Strafverfahren durch Staatsanwaltschaften und Gerichte entwickelt werden, ist dies bis heute nicht geschehen.

Der Gesetzgeber muss eingreifen

Strafrechtliche Verfolgung darf aber nicht in das Ermessen einzelner Strafverfolger und deren Verständnis von Begriffen wie "geringe Menge" gestellt werden. Dies ist nicht nur ein verfassungsrechtliches, sondern auch ein rechtspolitisches Gebot. Der Gesetzgeber muss dem unheimlichen Treiben ein Ende machen, das unbescholtene, meist junge, Menschen dem guten Willen der Strafverfolger ausliefert.

Nach der Vorstellung der universitären Strafrechtslehre sollte das Strafrecht als schärfstes Schwert des Staates begriffen und deshalb nur als Ultima Ratio staatlicher Sozialkontrolle eingesetzt werden. Es schützt den Einzelnen und die Gemeinschaft vor Gefahren, die von Dritten ausgehen. Doch es belässt dem erwachsenen Menschen die Freiheit, ihn selbst gefährdende Entscheidungen zu treffen, seien sie in den Augen Dritter auch unvernünftig. Womit und wie oft ich mich berausche, ist meine Privatsache.

Das heißt nicht, dass die Gemeinschaft Suchtkranken eine helfende Hand verweigern sollte. Sie darf auch präventiv versuchen, den Einzelnen in den von ihm zu verantwortenden Entscheidungen zu unterstützen, etwa durch Aufklärung, kontrollierte Abgabe von Drogen und Suchthilfe. Aber sie darf gefährliche Entscheidungen nicht von vornherein verhindern. Dass sie es nicht kann, ist seit Langem klar. Dass sie es von Rechts wegen nicht dürfen soll, ist ein Gebot der Vernunft.

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Quelle:
SZ vom 24.07.2015
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