Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Putins Hebel

Das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 verletzt zentrale EU-Regeln und entwertet die deutschen Bekenntnisse zum Multilateralismus.

Von Wolfgang Seibel

Nord Stream 2 wächst sich zum gesamteuropäischen Problem aus. Das Vorhaben einer zweiten Gaspipeline durch die Ostsee, deren westliches Ende bei Greifswald liegt und das mehrheitlich in russischer Trägerschaft betrieben wird, betrifft unmittelbar zunächst die Ukraine. Einmal durch den drohenden Verlust von Transitgebühren für die Durchleitung von russischem Gas; vor allem aber verliert die Ukraine ihre Schlüsselposition bei der Gasverteilung nach Westen und sieht sich damit verbunden dem Risiko ausgesetzt, russischem Druck und blanker Aggression umso schutzloser ausgeliefert zu sein. Das Projekt Nord Stream 2 hat sich zu einer schweren Belastung der EU und deren Außenbeziehungen in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht entwickelt. Die politische Verantwortung dafür trägt vor allem Deutschland. Es hat aber auch die politischen Kosten zu tragen.

Nord Stream 2 ist ein Vorhaben, das mit dem Rahmenprogramm der EU für die Klima- und Energiepolitik bis 2030 nicht zu vereinbaren ist. Der EU-Rahmen fordert eine drastische Verringerung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe, die Nachfrage nach Erdgas wird daher nach Einschätzung unabhängiger Forschungsinstitute sinken, eine zweite Gas-Pipeline durch die Ostsee also gar nicht benötigt. Betriebswirtschaftlich rechnet sich Nord Stream 2 schon unter heutigen Nachfragebedingungen nicht. Nach Angaben von Michail Krutichin von der Analysegesellschaft RusEnergy fehlen in der Kostenrechnung die Infrastrukturmaßnahmen und die Anlieferung der benötigten Röhren vom westsibirischen Jamal-Fördergebiet. Sie liegen nach Angaben von Krutichin um ein Vielfaches über dem, was bislang öffentlich gemacht wurde. Die Profiteure sind offenbar kremlnahe Oligarchen, denen ohne Ausschreibung Liefer- und Dienstleistungsverträge zugeschanzt wurden. Gazprom, so hieß es in Presseberichten, sei zum Selbstbedienungsladen für Freunde Putins geworden.

Ausgerechnet ein Analyst der staatlichen russischen Sberbank, Alexander Feck, hat in einer Studie vom Mai 2018 vorgerechnet, dass das Pipelineprojekt Gazprom statt der offiziell veranschlagten fünf Milliarden Euro mehr als 17 Milliarden Dollar, also rund das Dreifache, kosten und die ersten 20 Jahre keinen Gewinn machen werde. Nord Stream 2, so Feck, sei für Gazprom "zutiefst wertvernichtend". Er wurde daraufhin fristlos entlassen, Sberbank-Chef German Gref vollzog den Kotau und entschuldigte sich. All dies stützt die Vermutung, dass Nord Stream 2 auf russischer Seite nicht ein wirtschaftliches Projekt, sondern ein dezidiert geopolitisches Vorhaben ist, eingerahmt von Korruption und Repression.

Die Ungereimtheiten auf deutscher Seite verhalten sich hierzu komplementär. Unter massivem Einfluss deutscher und russischer Industrielobbyisten hat sich die Bundesregierung auf Rechtfertigungen des Pipelineprojekts eingelassen, die weder zu den wirtschaftlichen noch zu den politischen Tatsachen passen. Nord Stream 2 ist nicht nur unvereinbar mit dem EU-Rahmen für die Klima- und Energiepolitik, das Projekt verletzt vor allem auch die Grundsätze des Dritten Energiepakets der EU von 2009. Dessen Ziel, die Verringerung der Abhängigkeit der EU-Mitgliedstaaten von russischen Gas- und Öllieferungen, wird durch Nord Stream 2 ins Gegenteil verkehrt. Die EU-Regeln untersagen den Abschluss von Verträgen mit Lieferanten, die keine Trennung der Netztätigkeiten von den Erzeugungs- und Versorgungstätigkeiten gewährleisten. Mit diesem Entflechtungsgebot ist Nord Stream 2 unvereinbar, weil Gazprom sowohl Förderer als auch Vertreiber von Erdgas ist.

Russland nutzt Unberechenbarkeit als Druckmittel im Gasgeschäft

Die Bundesregierung hält dem entgegen, Nord Stream 2 sei eine privatwirtschaftliche, keine politische Angelegenheit, die Gasleitung verlaufe durch internationale Gewässer außerhalb der EU, zudem sei Russland ein verlässlicher Energielieferant. Dabei hat Putin persönlich bei seinem Treffen mit der Kanzlerin in Meseberg im August bekundet, den Gastransit durch die Ukraine von wirtschaftlicher Vertretbarkeit abhängig machen zu wollen. Wirtschaftlich vertretbar ist das politische Projekt Nord Stream 2 aber schon jetzt nicht. Putin macht also gar keinen Hehl aus seiner Absicht, weiterhin Unberechenbarkeit als politisches Druckmittel im Gasgeschäft zu nutzen.

Realistischer als die Bundesregierung äußern sich die meisten EU-Mitgliedstaaten. Schon im November 2015 haben zehn von ihnen gegen Nord Stream 2 in einem Schreiben an die EU-Kommission protestiert. Dänemark hat inzwischen das Verlegen von Nord Stream 2-Röhren durch seine Hoheitsgewässer untersagt. Das Europaparlament hat den Weg frei gemacht für die Anwendung der EU-Binnenmarktregeln auf Drittstaaten und damit gegen Nord Stream 2, was die Umsetzung des Dritten Energiepaktes betrifft. Die Annahme des Beschlusses durch den EU-Ministerrat wird von Deutschland blockiert. Anfang November haben fast 100 Europaparlamentarier unter Federführung des litauischen Liberalen Petras Auštrevicius und des deutschen Grünen-Abgeordneten Reinhard Bütikofer einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel geschrieben mit der Aufforderung, Nord Stream 2 zu stoppen. Nord Stream 2 spalte Europa. "Wählen Sie den europäischen Weg, Frau Bundeskanzlerin," appellierten die Abgeordneten, "nicht den Weg des 'Germany First'".

Bislang verhallen solche Mahnungen ungehört. Nord Stream 2 entwertet die deutschen Bekenntnisse zum Multilateralismus und verlängert den Hebel der russischen Destabilisierungspolitik. Dadurch gerät Deutschland nicht zuletzt in Konflikt mit dem US-Kongress, wo Abgeordnete der Demokraten und der Republikaner, darunter John McCain, zum Missfallen des Putin-Bewunderers Donald Trump den "Defending American Security from Kremlin Aggression Act" durchgesetzt haben. Er sieht unter anderem Maßnahmen gegen Investitionen in Projekte der russischen Öl- und Gasindustrie vor. Das kann zum Beispiel die Muttergesellschaft der an Nord Stream 2 beteiligten Wintershall AG treffen, die BASF, die 2017 in Nordamerika für 18 Milliarden Dollar Produkte abgesetzt hat - fast das Fünffache des gesamten Wintershall-Umsatzes.

Gerne stellt man in Berlin das Blockieren von EU-Beschlüssen als anti-amerikanischen Abwehrkampf dar. Man lasse sich deutsche Energiepolitik nicht von den USA diktieren, heißt es. Derlei wird auf Dauer nicht verdecken können, dass Deutschland sich bei Nord Stream 2 in eine Lage manövriert hat, in der es nichts zu gewinnen, aber durch nationale Kurzsichtigkeit und diplomatisches Unvermögen immer noch viel zu verlieren gibt.

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Quelle:
SZ vom 04.01.2019
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