Außenansicht:Sozialdemokraten Europas, schaut nach Schottland!

Nicola Sturgeon Returns To Her Constituency

Die Schottische Nationalpartei (SNP) unter Nicola Sturgeon verdankt ihren Erfolg einer Kombination von Mitte-Links-Positionen und einem weltzugewandten Patriotismus.

(Foto: Getty Images)

Die Parteien der linken Mitte stecken in einer fundamentalen Krise. Nur die schottische SNP trotzt dem Trend. Wie macht sie das?

Von Michael Bröning

Die Feststellung, Europas Parteien der linken Mitte steckten in der Krise, ist die Untertreibung des Jahrzehnts. Von zwölf Wahlen des vergangenen Jahres in Europa haben Mitte-links-Parteien elf verloren. In weiten Teilen des Kontinents spielen Sozialdemokraten derzeit faktisch keine Rolle mehr. In Polen, Irland, den Niederlanden oder Griechenland liegen ihre Zustimmungswerte im einstelligen Bereich. Stattdessen feiert die Rechte einen Wahlerfolg nach dem anderen, wie zuletzt die Populisten von der FPÖ in Österreich.

Gegen diesen Trend verbuchte die sozialdemokratische Schottische Nationalpartei in der vergangenen Woche bei den Regionalwahlen einen klaren Sieg. Die seit neun Jahren in Edinburgh regierende SNP holte in einem als historisch gefeierten Sieg 63 von 129 Sitzen und verpasste so nur ganz knapp die absolute Mehrheit. Wahlverlierer ist die Labour-Partei. Sie wurde von den Konservativen auf einen erniedrigenden dritten Platz verwiesen.

Außenansicht: Michael Bröning, 40, leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

Michael Bröning, 40, leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

(Foto: R. Zensen)

Die SNP ist sozialdemokratischen Kernwerten stets treu geblieben

Die Pulverisierung Labours im einstigen roten Stammland hat gravierende Folgen. Nicht nur auf die Regierungsperspektiven der britischen Linken insgesamt, sondern auch auf ein mögliches zweites Schottlandreferendum im Falle eines Brexit. Zugleich aber liefert der anhaltende Erfolg der SNP durchaus übertragbare Hinweise darauf, wie europäische Parteien der linken Mitte die wachsende Kluft zwischen ihnen und breiten Wählerschichten zumindest ein Stück weit schließen können.

Das Erfolgsrezept der SNP beruht auf einem Dreiklang aus traditionellen Mitte-links-Positionen, einer populären Führungsriege und einem für linke Bewegungen ungewöhnlichen progressiven Patriotismus. Während die britische Labour-Partei unter Tony Blair ihren Schwenk Richtung Neoliberalismus mit einer anschließenden politischen Sinnkrise bezahlen musste, ist die SNP sozialdemokratischen Kernwerten stets treu geblieben. New Labour fand bei ihr schlicht nicht statt. So ist die Privatisierung der Infrastruktur in Schottland ebenso undenkbar, wie es Studiengebühren an Universitäten oder gar militärische Abenteuer im Nahen Osten sind.

Im Kampf um das als "Holyrood" bezeichnete schottische Parlament setzte die SNP daher überzeugend auf Kontinuität: Ihr Wahlmanifest forderte eine Ausweitung des Mindestlohns, die Reduzierung klimaschädlicher Emissionen um mehr als 50 Prozent und den Ausbau weitgehend kostenfreier Kinderbetreuungsangebote. Abgerundet wurde das Portfolio durch die Zusage, das umstrittene Handelsabkommen TTIP mit den USA nachzubessern und Öl- und Gasförderung mittels Fracking weitgehend zu unterbinden.

Vermittelt werden diese Positionen durch eine kompetente, relativ junge und auch weibliche Führungsriege um Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon. Sie steht nicht zuletzt für einen Pragmatismus der Macht, der auch die Interessen der schottischen Wirtschaft durch einen gemäßigten Kurs in Steuerfragen bedient. Spätestens seit Sturgeon im vergangenen Westminster-Wahlkampf Labour-Chef Ed Miliband per TV-Duell mit authentischen Mitte-links-Positionen deklassierte, gilt sie nicht nur als vertrauenswürdige Anwältin schottischer Interessen im Vereinigten Königreich, sondern auch als Leitfigur einer überzeugend bürgernahen linken Mitte.

Mitte-links-Positionen, verbunden mit einem weltzugewandten Patriotismus

Ein weiterer Dauertrumpf der SNP ist ihre Konfrontationsstrategie gegenüber der britischen Regierung in Westminster - nicht trotz, sondern gerade wegen des im vergangenen Jahr verlorenen Unabhängigkeitsreferendums. Das überraschend knappe Ergebnis und die Verknüpfung sozio-ökonomischer Mitte-links-Positionen mit dem Traum der Unabhängigkeit mobilisiert noch heute Parteianhänger. Seit der Niederlage konnte die SNP ihre Mitgliederzahl verfünffachen.

Der offen postulierte civil nationalism der Partei beruht dabei nicht auf ethnischer Ausgrenzung, sondern auf bürgerlichem Verfassungspatriotismus, der prinzipiell auch Einwanderern, Migranten und Flüchtlingen offensteht. So fordert die SNP trotz schottischer Identitätspolitik seit Monaten in London eine weniger restriktive Flüchtlingspolitik. Dieser Standpunkt knüpft dabei an Jahrzehnte proeuropäischer Rhetorik an - natürlich auch, weil die SNP den geforderten historischen Bruch mit dem Vereinigten Königreich durch eine feste EU-Verwurzelung zu mildern hofft.

Das enthusiastische Zelebrieren schottischer nationaler Eigenständigkeit ist dabei nicht nur ein Aufbegehren gegen das Londoner Establishment, sondern auch ein grundsätzliches Bekenntnis zur Steuerungsfähigkeit von Politik insgesamt. In Zeiten der vorgeblichen Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen ist diese Rückeroberung des Nationalen als Betätigungsfeld sozial gerechter Politik keine Kleinigkeit. Geschickt versteht es die SNP dabei freilich auch, Erfolge als Etappenziele weitreichender politischer Visionen zu verkaufen, Fehlschläge hingegen durch Verweis auf eingeschränkte Handlungsfähigkeit zu relativieren.

Die Wähler haben Labour das Nein zur Unabhängigkeit nicht verziehen

Bislang fehlt der in Schottland über Jahrzehnte dominanten Labour-Partei auch unter ihrem neuen Vorsitzenden Jeremy Corbyn eine überzeugende Gegenstrategie. Die bisherigen Versuche Labours jedenfalls, die ideologischen Überzeugungen der SNP als "vorgeschoben" zu diskreditieren und den bürgerschaftlichen Patriotismus der Partei mit einem etwas anämisch wirkenden Verweis auf den eigenen Internationalismus zu kontern, laufen bislang ins Leere. Das auch, weil die Wähler Labour das Nein zur Unabhängigkeit noch längst nicht verziehen haben.

Ein grundsätzlicher Kurswechsel Labours in dieser Frage ist mit Blick auf den Rest des Vereinigten Königreichs kurzfristig undenkbar. Doch klar ist auch: Umfassende Unterstützung dürfte die Partei in Schottland erst wieder erfahren, wenn es ihr gelingt, Frieden mit den identitären Kernfragen der schottischen Wählerschaft zu schließen. Hierzu gehört auch und gerade, nationale Empfindungen nicht pauschal als endlich zu überwindendes falsches Bewusstsein abzutun, sondern als Bestandteil einer komplexen, progressiven, europäischen, aber eben auch nationalstaatlichen Identität zu akzeptieren.

Das Potenzial einer linken Mitte, die einen sozio-ökonomischen Gerechtigkeitsdiskurs mit dem identitären Sicherheitsversprechen eines weltzugewandten Patriotismus verbindet, hat die SNP vor vielen Jahren erkannt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Mitte-links-Parteien kann sie Wahlen zuversichtlich entgegenblicken. Europas linke Mitte sollte davon lernen.

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