Außenansicht:Neuer Schiedsrichter gesucht

Die EU-Kommission versagt im Schuldenstreit mit Italien. Sie sollte ihre Rolle als Hüterin der Stabilitätsregeln abgeben.

Von Friedrich Heinemann

Außenansicht: Friedrich Heinemann, 54, leitet den Forschungsbereich "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft" am ZEW-Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim und lehrt VWL an der Universität Heidelberg.

Friedrich Heinemann, 54, leitet den Forschungsbereich "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft" am ZEW-Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim und lehrt VWL an der Universität Heidelberg.

(Foto: Erich Dichiser)

Die Europäische Kommission hat darauf verzichtet, ein Defizitverfahren gegenüber Italien zu eröffnen. In den Verhandlungen hatte die italienische Regierung sich bereit erklärt, im Haushaltsplan für 2019 das zunächst auf 2,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes veranschlagte Defizit auf 2,04 Prozent zu verringern. Währungskommissar Pierre Moscovici hat die Entscheidung gegen ein Strafverfahren als einen "Sieg des Dialogs" bezeichnet. Dieses Selbstlob ist unangebracht. In Wahrheit liefert die Italien-Entscheidung einen weiteren Beleg dafür, dass die Kommission als Wächterin europäischer Fiskalregeln immer deutlicher versagt.

Italien verletzt die Messlatten des Stabilitätspakts trotz der jüngsten kosmetischen Korrekturen gleich in mehrfacher Weise. Erstens müsste der Schuldenstand eigentlich jährlich um drei Prozentpunkte im Verhältnis zum BIP sinken, um in zwanzig Jahren die 60-Prozent-Grenze des Maastrichter Vertrags einhalten zu können. Zweitens gilt für Italien als hoch verschuldetes Land bei der Neuverschuldung nicht die allseits bekannte Drei-Prozent-Obergrenze, sondern eine verschärfte Vorgabe. Das Land muss mittelfristig einen ausgeglichenen Haushalt - nach Konjunkturbereinigung - vorlegen. Und drittens verpflichtet der Stabilitätspakt die Regierung, das Defizit mit Schritten von 0,6 Prozentpunkten abzusenken, bis der Budgetausgleich erreicht ist. Um all diese Regeln hat sich die neu gewählte Regierung nicht einen Moment lang gekümmert. Statt eine Verringerung des Defizits anzustreben, setzt die Allianz von Lega und Fünf Sternen auf eine starke Ausweitung der Neuverschuldung.

Der jetzt erzielte "Kompromiss" mit geringen kosmetischen Korrekturen führt Italien auch bei wohlwollender Betrachtung nicht zurück in den regelkonformen Bereich. Die Kommission verkauft es als einen Erfolg, dass das konjunkturbereinigte Defizit in etwa konstant gehalten wird, obwohl eine Absenkung zwingend ist. Sie übergeht außerdem, dass die Regierung wichtige Arbeitsmarkt- und Rentenreformen ihrer Vorgänger rückgängig macht und daher die Gründe für "mildernde Umstände" in der Auslegung der Regeln weggefallen sind.

Es ist aufschlussreich, wie der Währungskommissar Moscovici die Entscheidung trotz des anhaltenden Regelbruchs rechtfertigte. Es handle sich um eine "strategische Entscheidung" unter Berücksichtigung des "Kontexts" eines erstarkenden Nationalismus, sagte Pierre Moscovici. Diese Begründung steht in der Tradition einer politisierten Regelanwendung. Dieser Ansatz hatte sich schon im Jahr 2016 angekündigt, als der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker für die Akzeptanz eines hohen französischen Defizits die lapidare Begründung gab: "weil es Frankreich ist".

Immer unverhohlener erfolgt die Auslegung der europäischen Schuldenregeln nicht nach Faktenlage und den vereinbarten Bedingungen, sondern nach politischem Kalkül. Der Trend zur Anwendung von Regeln nach politischen Kosten-Nutzen-Kalkülen ist nicht auf Italien beschränkt, wie dies die Nachgiebigkeit auch gegenüber dem erhöhten Defizit Frankreichs belegt. Damit disqualifiziert sich die Europäische Kommission als neutraler Schiedsrichter.

Jahrzehntelang hat diese Institution zum Beispiel in der europäischen Beihilfekontrolle und Wettbewerbsaufsicht Hervorragendes geleistet, gerade weil sie die Regeln technokratisch und ohne politische Abwägungen ausgelegt hat. Die Kommission hat sich eben nicht um Widerstand von Interessengruppen gekümmert, als es um das Aufbrechen der alten Staatsmonopole ging. Und sie hat keine Rücksichten auf protektionistische Reflexe genommen, wenn es um die Durchsetzung von Binnenmarktregeln ging.

Dieser technokratische und neutrale Ansatz ist mit dem neuen Selbstverständnis der Europäischen Kommission als politischer Akteur zumindest für den Stabilitätspakt offenbar Geschichte. Die vereinbarten Regeln haben an Bedeutung verloren. Das für die Kommission offenbar einzig relevante Kriterium ist hingegen, was politisch opportun erscheint. Diese Politisierung des Stabilitätspakts ist ein Desaster für seine Glaubwürdigkeit.

Die Kommission scheint dabei überhaupt nicht zu merken, wie sie mit diesem Ansatz ihr politisches Ziel einer Eindämmung des Populismus verfehlt. Der Umgang der Kommission mit den Defizitregeln im Stil einer Tarifverhandlung sendet das fatale Signal, dass man über die Regelanwendung jederzeit ergebnisoffen verhandeln kann. Die Entscheidung zu Italien beweist, dass Frechheit belohnt wird: je unverantwortlicher die anfänglich in den Raum gestellte Defizitzahl, desto höher die im Verhandlungskompromiss akzeptierte Obergrenze. Was als Strategie zur Eindämmung populistischer Finanzpolitik verteidigt wird, bewirkt das Gegenteil. Da reichen dann schon drei Protestwochenenden mit gelben Westen in Paris, um die Vorgaben des Stabilitätspakts für Frankreich außer Kraft zu setzten. Eine bessere Ermunterung für populistische Pressure-Groups kann es nicht geben. Die neue Brüsseler Linie ist daher kontraproduktiv und bereitet einer unverantwortlichen Finanzpolitik in Europa weiter den Weg.

Es gibt einen Ausweg aus dieser Misere, der in den laufenden Verhandlungen zur Reform der Euro-Institutionen nun verstärkt in den Blick genommen werden sollte. Wenn sich die Kommission zunehmend diskreditiert, dann müssen neue Schiedsrichter her. Noch wenig beachtet von der Öffentlichkeit, fällt seit zwei Jahren eine neue Institution in Brüssel durch kluge und ausgewogene Berichte zur Auslegung des Stabilitätspakts auf: der Europäische Fiskalausschuss (EFA). Das Gremium besteht aus fünf anerkannten Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Finanzindustrie und Politik. Noch agiert der EFA unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle und ist wegen der Besetzung des Sekretariats mit Kommissionsbeamten noch nicht unabhängig genug. Gleichwohl sind seine Analysen wohltuend unpolitisch und sehr deutlich, wenn Kritik geübt wird an dem zu geringen Ehrgeiz der Euro-Staaten, ihre Haushalte zu konsolidieren.

Will man den Stabilitätspakt retten, dann sollte der EFA ein umfangreicheres Mandat in allen Entscheidungen über Eskalationsstufen und Strafverfahren des Pakts erhalten. Der Weg der Kommission zu einer politischen Institution dürfte unumkehrbar sein. Umso wichtiger ist es, dass sie ihre Rolle als neutrale Schiedsrichterinstanz nun endlich an jemanden übergibt, der das besser kann.

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