Wir helfen" und "wir schaffen das." - so simpel ist Staatsräson zu formulieren. In diesem Sommer erleben wir ein ungekanntes Deutschland. Kaum jemand ahnte es, aber jetzt spürt jeder: Die Herausforderung durch Hunderttausende Flüchtlinge, die bei uns eine Heimat suchen, hat eine wegweisende Phase der deutschen Geschichte eingeläutet. Und es zeigt sich: Wir sind stark. Zwar zeugen die rechtsextremen Abwehrreflexe, Anschläge und Ausschreitungen auch von der dunklen Seite unseres Landes. Diese Bilder schockieren, überdecken jedoch nicht das Glanzlicht-Deutschland, das sich in den letzten Wochen entpuppt hat. Speziell die Münchner transportieren das Bild der "Weltstadt mit Herz" in die Welt, das Stolz und Staunen hervorruft. Ein Gebot der Menschlichkeit und doch in dieser überwältigenden Form nicht selbstverständlich. Unser Land ist von der Kommune bis zur Kanzlerin beseelt von Empathie.
Dieses Deutschland zu erleben ist wohltuend, gerade für die jüdische Gemeinschaft. Nicht zuletzt für jene, deren Erinnerung an Verfolgung und Flucht noch immer präsent ist. Das Land, das im 20. Jahrhundert für die schrecklichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte verantwortlich zeichnete, ist heute zu Recht ein Synonym für Hoffnung und Sicherheit. Umso mehr irritieren Überlegungen und Forderungen, unser Land müsse sich nun verändern. Das scheint ein typisch deutscher Reflex zu sein. Kaum ein anderes Land käme auf die Idee, sich ändern zu müssen, weil die Einwohnerzahl um ein Prozent wächst. Zumal, wenn es justament bewiesen hat, wie stabil und tragfähig seine Demokratie funktioniert, wie flexibel und unbürokratisch die Verwaltung reagiert und wie offenen und menschlich die Zivilgesellschaft Courage zeigt und anpackt. Das hervorragende Engagement - am Limit - von Politik, Verwaltung, Polizei und Bürgergesellschaft demonstriert einen Staat in bester Verfassung. Dieser herausragende Einsatz aller Beteiligten ist getragen von einem Wertekodex - absolut absurd, daran etwas ändern zu wollen. Deutschland hat aus seiner Geschichte gelernt und übernimmt heute Verantwortung im Geiste von Humanität und Freiheit.
Die Bewältigung der "Flüchtlingskrise" ist auch deswegen unsere Pflicht, weil der Westen an den Ursachen Mitschuld trägt. Speziell in Syrien, das man sehenden Auges in die Fänge der bestialisch-barbarischen Horrormiliz IS geraten ließ. Angesichts des globalen Desasters reicht allein "Willkommenskultur" nicht. Längst überfällig ist eine internationale Strategie für die Heimatländer der Flüchtlinge, eine intensivere Unterstützung ihrer Nachbarstaaten etwa der Türkei, Libanons oder Jordaniens und mehr Druck auf die reichen arabischen Golfstaaten. Hierzulande gilt: Die Flüchtlinge sind jetzt da, und jene, die bleiben dürfen, müssen schnellstmöglich auch bei uns ankommen.
Schon umgarnen Salafisten vielerorts die Flüchtlinge und verbreiten ihre Ideologie
Diese historische Herausforderung - über den Tag hinaus - kann nur von einem politisch und gesellschaftlich geschlossenen Gemeinwesen getragen werden, das selbstbewusst und patriotisch empfindet und auftritt. Und zwar aufgeklärt patriotisch - geläutert von einer erkenntnis- und lernorientierten Erinnerungskultur und somit souverän und wehrhaft im Umgang mit den eigenen Werten. Diese Definition ist eine Absage an die Applaudierenden von der falschen Seite, die rechtspopulistischen Gratwanderer und das rechtsextreme Pack. Die Volksparteien müssen das Thema Patriotismus endlich selbst mit Verve und Leidenschaft in die Hand nehmen. So rüsten sie unser Land für die historische Prüfung. Nur ein selbstbewusstes und patriotisches Deutschland kann dieses Jahrhundertprojekt schaffen. Die Phase der Improvisation ist schleunigst zu beenden. Von nun an gilt es, mit ganzer Kraft, auf allen gesellschaftlichen Ebenen nachhaltige Konzepte der Einbindung zu entwickeln, die Parallelwelten und -werte verhindern. Die Integrationspolitik vergangener Jahre verdiente ihren Namen nicht. Diese Fehler zu wiederholen würde unser Land garantiert verändern - aber nicht zum Besseren. "Bei uns ankommen" steht für die Eingliederung in unsere Gesellschaft, unser Schulsystem, unseren Arbeitsmarkt und eben auch in unsere Kultur und unsere Werte. Das ist das eigentliche Mammutprojekt. Schon umgarnen Salafisten vielerorts die Flüchtlinge und verbreiten ihre verheerende Ideologie. Nicht grundlos schwingt bei vielen Juden im Lande neben der Freude über ihre liberale Heimat auch Sorge mit. Wir müssen von jedem, der in der Bundesrepublik lebt oder leben möchte, das unmissverständliche Bekenntnis zu unserem Wertetableau verlangen: zu unserem Grundgesetz, den Bürger-, Menschen- und Freiheitsrechten, insbesondere zu Gleichberechtigung, Religions- und Meinungsfreiheit sowie den Errungenschaften der Aufklärung.
Wer hier leben will, muss verstehen und respektieren, dass die aktive Erinnerung an den Holocaust ebenso deutsche Staatsräson ist wie der Kampf gegen Antisemitismus sowie das Einstehen für die Existenz und die Sicherheit Israels. Nur derjenige, der stolz auf unsere Werte ist und sich selbstbewusst zu unserem Land bekennt, hat die Stärke und den Mut, diese Werte zu verteidigen und extremistischen Einflüssen zu widerstehen. Das gilt für Neuankömmlinge wie für Alteingesessene. Nicht wenige in der Bevölkerung haben diffuse Ängste. Damit umzugehen ist nicht einfach. Sie zu ignorieren wäre verheerend und würde Populisten wie Neonazis ungeahnten Zulauf verschaffen.
Wenn die Politik den Menschen vor Ort nicht explizit erklärt, was "wir schaffen das" für jeden Einzelnen bedeutet, wenn die Sorgen nicht mit konkreten Wegen in die Zukunft entkräftet werden, kippt die Stimmung. Beim Stemmen dieses Jahrhundertprojekts sind gesinnungsethische Postulate allein nicht hilfreich. Die Situation verlangt verantwortungsethisches Argumentieren und Handeln. Da verbietet es sich, Politiker wohlfeil in eine Ecke zu stellen, die jene Ratio anmahnen. Jetzt kommt es auf überparteiliche Geschlossenheit an - auch gegenüber den europäischen Partnern. Gerade hat sich die Europäische Union mühsam zusammengerauft, um fernab ökonomischer Vernunft Griechenland zu retten - um die europäische Idee zu retten. Diese steht jetzt auf dem Prüfstand.
Doch die EU verhält sich in Teilen unsolidarisch und befremdlich - der beteuerten Werteunion unwürdig. 77 Jahre nach der Evian-Konferenz gibt der Friedensnobelpreisträger ein klägliches Bild ab. Deutschland jedoch muss und darf sich nicht verändern. Wir Deutschen sind verantwortungsbewusst und beherzt - dieses Wir müssen wir bleiben. Dann sind wir stark genug, um zu helfen, um es zu schaffen.