Außenansicht:Menetekel für Afrika

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Eine neue Krise der Elfenbeinküste wäre schlecht für alle Nachbarländer und auch für Europas Hoffnung, die Migration aus dieser Region zu stoppen. Die Probleme zeigen, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag politisch gesehen versagt hat.

Von Andreas Mehler

In Westafrika schauen viele auf die wichtigste ökonomische "Lokomotive" der Region: die Elfenbeinküste. Eine neue Krise wie vor wenigen Jahren wäre Gift für alle Nachbarländer - und natürlich auch für die europäischen Hoffnungen, dass sich Migration aus dieser Region durch Entwicklung stoppen lässt. Einerseits war das boomende Land seit den Siebzigerjahren bevorzugtes Ziel der Arbeitsmigration aus dem Sahel, andererseits ist es nun schon seit Langem auch "Exporteur" von Migranten, weil sich Wirtschaftswunder nicht einfach wiederholen lassen.

Präsident Allassane Ouattara verfügte vor ein paar Wochen eine Amnestie für 800 Personen, die im Zusammenhang mit der gewaltsamen Krise nach den Wahlen 2010 zu teils langen Haftstrafen verurteilt wordem waren. Am prominentesten: die ehemalige First Lady Simone Gbgabo, die wegen Verschwörung gegen den Staat zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt war. Auch der zu zwölf Jahren verurteilte, nun amnestierte Ex-Verteidigungsminister Moise Lida Kouassi ist ein wichtiger Repräsentant der einstigen Regierungspartei Front Populaire Ivoirien (FPI). Warum entscheidet sich Ouattara heute für eine Amnestie, sieben Jahre nach den Ereignissen, ohne je zuvor glaubhafte Schritte zur Versöhnung unternommen zu haben? Und welche Lehren lassen sich in Europa daraus ziehen?

Der wichtigste Grund für den Straferlass dürfte sein, dass Ouattara seine Regierungskoalition retten wollte. Die Spaltung geht auf die 1990er-Jahre zurück, als Ouattara im Streit die ehemalige Staatspartei verließ; er war lange Premierminister, unterlag aber im Kampf um die Nachfolge des Staatsgründer-Präsidenten Félix Houphouët-Boigny. In der Auseinandersetzung mit der FPI fanden sich diese Lager wieder zusammen und zwar nun unter Führung Ouattaras, der bei Wahlen 2010 den Präsidenten Laurent Gbagbo besiegen konnte, der dies freilich nicht anerkannte. Erst mit Waffengewalt und vornehmlich französischer Unterstützung konnte sich Ouattara schließlich durchsetzen.

Kritiker sehen in der "Vereinigung der Houphouëtisten" eine Zwangsgemeinschaft, die ohne den gemeinsamen Feind zu bröckeln beginnt. Ouattara benötigt eine starke Opposition, um den eigenen Laden zusammenzuhalten. Deshalb gibt er der FPI wieder Luft. Aber wahrscheinlich kommt das Signal zu spät.

Zweiter wichtiger Grund für die Amnestie: Ein vertraulicher Bericht der EU-Botschafter fand vor kurzem den Weg in die Presse - er fällt sehr kritisch aus. Seine Autoren bemängeln die extrem ungleiche Verteilung des bemerkenswerten Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre (nahezu acht Prozent jährlich). Und Sie beklagen, dass sich die Regierung gegen Kritik abschottet und nicht um die Wiederversöhnung des tief gespaltenen Landes bemüht. Das Regime ließ die schweren Menschenrechtsverletzungen der eigenen Truppen im Jahr 2011 nicht untersuchen. Ouattaras "republikanischen Kräfte" wurden von "Zonenkommandeuren" angeführt, die wenig Skrupel kannten und in der Nachkriegszeit politisch einflussreich blieben. Die EU-Botschafter regen an, die Brüsseler Beziehungen zum Land zu überdenken - eine ernste Bedrohung. Auch in dieser Hinsicht schien dem Präsidenten eine große symbolische Geste ratsam zu sein.

Der Coup ist ihm auf den ersten Blick gelungen: Alle politischen Lager begrüßten den Schritt. Aber in der Substanz ist noch wenig erreicht. Schließlich kann sich Ouattara die Freilassung der Präsidentengattin gut leisten. Solange ihr Mann, Laurent Gbagbo in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof steht, bleibt sein wichtigster Gegner ausgeschaltet. Prozessbeobachter halten es angesichts dürftiger Beweislage nicht für ausgeschlossen, dass der Ex-Präsident von den ihm angelasteten Verbrechen gegen die Menschlichkeit freigesprochen wird, aber wahrscheinlich erst nach zwei weiteren Jahren in Haft. Dies würde ihm kaum erlauben, an den 2020 anstehenden Präsidentschaftswahlen teilzunehmen. Außerdem ist ein zweites Verfahren (diesmal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit) gegen Simone Gbagbo in Abidjan immer noch möglich. Solange Ouattara die Justiz des Landes kontrolliert, kann er die radikale Opposition unter Druck setzen. Weniger klar ist, wie er die Kritiker in den eigenen Reihen besänftigen möchte.

Aber nicht nur die innerivorische Diskussion wird spannend bleiben. Es muss auch um die politischen Wirkungen von juristischen Verfahren gehen. In der Côte d'Ivoire, aber auch in anderen afrikanischen Staaten gelangen stets die Verlierer gewaltsamer Auseinandersetzungen auf die Anklagebank, nie die Gewinner. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat politisch gesehen versagt: Die 2011 eröffneten Verfahren gegen Kenias Präsidenten Uhuru Kenyatta und seinen Vizepräsidenten William Ruto wurden 2015/16 suspendiert. Jean-Pierre Bemba, ein wichtiger "politisch-militärischer Unternehmer" in der Demokratischen Republik Kongo und 2016 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, musste nach einem Berufungsverfahren im Juni 2018 freigesprochen werden. Joseph Kabila, dem Staatspräsidenten wird es nicht ungelegen gewesen sein, dass sein Gegenspieler wegen seines Kriegsverbrecherverfahrens zehn Jahre in Haft saß - und das noch fern der Heimat.

Die Länge der Verfahren ist ein Problem, eine voreilige Anklageerhebung möglicherweise ein anderes. Bei Laurent Gbagbo könnte das ganz ähnlich laufen. Für die Regierenden in Kinshasa oder in Abidjan ist die späte Entlassung ihrer Gegenspieler in die Freiheit nachrangig: ihre Opponenten werden für eine kleine Ewigkeit aus dem politischen Spiel genommen - freie Fahrt für Autokraten.

Warum Menschenrechtler sich solchen politischen Realitäten verschließen, bleibt ein Rätsel. Wer Verzerrungen des politischen Wettbewerbs verhindern will, sollte alle Bürgerkriegsparteien auf der gleichen Hierarchieebene zur Verantwortung ziehen. Es stellt sich auch die Frage, wie eine listige Instrumentalisierung internationaler Gerichtsbarkeit durch afrikanische Regierungen verhindert werden kann.

Für die europäische Diplomatie hält der ivorische Fall ebenfalls Lehren bereit: das Schönreden beenden, schonungslose Analyse, gemeinsame Positionen und die Androhung von Konsequenzen blieben keinesfalls wirkungslos. Wenn die Elfenbeinküste wieder zu dem werden soll, was sie einst war - ein Ort wirtschaftlicher Aktivität und damit Anziehungspunkt der Arbeitsmigration -, dann muss vielen Fehlentwicklungen jetzt entgegengewirkt werden, begleitet von einem offenen politischen Dialog.

© SZ vom 21.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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