Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Liberal und realistisch

Demokratien können sich gegen den Terrorismus wehren, ohne Freiheit und Rechtsstaat zu gefährden. Sie brauchen aber klare Regeln.

Von Ira Katznelson

Nach den erschütternden Terroranschlägen in London und anderswo drängt sich die Frage auf, wie Sicherheit und Freiheit miteinander zu vereinbaren sind. In Großbritannien will Premierministerin Theresa May Terrorabwehr und Nachrichtendienste stärken und die Überwachungssysteme ausbauen, obwohl diese schon heute zu den stärksten in Europa gehören.

Der Ausnahmezustand scheint weltweit zur Norm zu werden. Seit den Anschlägen von 2001 herrscht in den Vereinigten Staaten der nationale Notstand; er wird alljährlich per Verfügung verlängert. Die Präsidenten George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump haben mit Gesetzen und Verordnungen ein breites Arsenal neuer Sicherheitsmaßnahmen aufgeboten. Das Muster setzt sich fort: Seit den Anschlägen im November 2015 gilt in Frankreich der Ausnahmezustand. Er erlaubt es den Sicherheitskräften, ohne gerichtliche Aufsicht zu agieren. Nach dem Anschlag von Berlin im Dezember treibt auch die Bundesregierung eine Stärkung des Staates und Sicherheitsreformen voran.

Was bedeutet der Zustand fortgesetzter Bedrohung für die freiheitlichen Werte demokratischer Gesellschaften? Im Governance Report 2017 (Oxford University Press) untersuchen Ewa Atanassow vom Bard College Berlin und ich, inwieweit Demokratien in der Lage sind, Freiheit und Sicherheit zu vereinen. Wir suchen nach Instrumenten, die Sicherheit gewährleisten, ohne die Prinzipien von Verfassung und Moral zu kompromittieren.

Der deutsche Philosoph und Kritiker des Liberalismus, Carl Schmitt, vertrat die Ansicht, dass freiheitlich-demokratische Gesellschaften für den Umgang mit Sicherheitsrisiken schlecht gerüstet seien. Solche Risiken erforderten ein Handeln außerhalb rechtsstaatlicher Prinzipien, den Grundpfeilern der freiheitlichen Ordnung. Doch eine lange Tradition liberalen Denkens und Handelns, die Schriften John Lockes sowie des radikalsten der amerikanischen Gründerväter, Alexander Hamilton, führten einige Denker zu einer Alternative.

Locke und Hamilton erkannten, dass ein realistischer Liberalismus — er gewährleistet Sicherheit, ohne bürgerliche Freiheiten einzuschränken — für repräsentative Demokratien überlebensnotwendig ist. Sie sahen nicht nur, dass institutionelle Lösungen nötig sind, sondern fragten auch, wann und wie lange ein Ausnahmezustand gelten dürfe und was das für Recht und Verfassung bedeute. Diese Fragen unterstrichen sowohl Schmitts Liberalismuskritik als auch die Reaktionen seiner amerikanischen Kritiker, namentlich Carl Friedrich, Frederick Watkins und Clinton Rossiter. Nach dem Untergang der Weimarer Republik und zwei Weltkriegen hatten diese realistischen Denker verstanden, dass Demokratien sich besser für den Umgang mit Krisen wappnen und handlungsfähiger werden mussten.

Für einen Standard des gesunden Menschenverstandes

Im Gegensatz zu Schmitt lehnten sie es ab, Rechtsnormen außer Kraft zu setzen; dadurch könnten vorübergehende Maßnahmen zur Norm werden. Die Übertragung von Vollmachten auf die Exekutive müsse konkret, zielgerichtet und zeitlich begrenzt sein. Notstandssituationen müssten inhaltlich und zeitlich beschränkt und zwischen Ausnahme und Regel müsse klar unterschieden werden.

Diese Richtlinien überzeugen auch heute noch, doch die strukturellen, institutionellen und ethischen Bedingungen, die ihr Fundament bilden, haben sich gewandelt. In den vergangenen 70 Jahren ist die Grenze zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Umständen poröser geworden. Atomwaffen, Kalter Krieg und Terror haben zu einer zunehmenden Delegation von Macht an die Exekutive geführt.

Nach dem Vietnamkrieg unternahm der US-Kongress einige Anstrengungen, um die Aufsicht durch die Legislative wiederherzustellen, in der Praxis aber ließ sich die Machtverschiebung zum Präsidenten nicht aufhalten. Der 11. September 2001 hat diesen Trend weiter verstärkt. Der Kongress billigte der Exekutive zur Terrorbekämpfung eine enorme Machtfülle zu, bis hin zu nicht gekannten Maßnahmen wie der Autorisierung von Mord und der unbegrenzten Inhaftierung von Terrorverdächtigen. Die Macht der Legislative sank, die der Exekutive wuchs, die Rechte von Bürgern und ausländischen Häftlingen wurden eingeschränkt.

"Ausnahme"-Bedingungen sind heute breiter gefasst, heterogener und wohl auch dauerhafter. Die Eckpfeiler von Recht und Verfassung zum Schutz der bürgerlichen Freiheiten haben sich in Reaktion auf die permanente Natur der Notlagen grundlegend gewandelt. Die Probleme von heute sind mit den Lösungen von gestern nicht zu meistern. Daher sollten für effektive und mit dem Verfassungsstaat vereinbare Lösungen vier Grundsätze gelten:

Erstens: Vorübergehende Maßnahmen und Dauerzustand sind klar voneinander zu trennen. Selbst im Falle dauernder Bedrohung kann dieser traditionelle Unterschied durch Festlegung eines Geltungszeitraums und das Erfordernis einer formalen Erneuerung abgesichert werden.

Zweitens: Weder Politiker noch Institutionen dürfen dauerhaft von der Kontrolle ausgenommen werden. Auch in Ausnahmesituationen darf es keine Maßnahmen geben, die verdeckt oder außerhalb der demokratischen Praxis ablaufen. Judikative, Legislative und Exekutive müssen ihre Informationen offenlegen und sich demokratischer Kontrolle unterwerfen.

Drittens: Für politische Entscheidungen zu Sicherheitsrisiken sollten klare rechtliche Standards gelten. Gerade dieses Thema hat im liberalen Denken eine lange Tradition. So trat der emigrierte deutsche Wissenschaftler und Berater von Präsident Abraham Lincoln, Frances Lieber für den "Standard einer vernünftigen Person" ein: "Eine Maßnahme, der nicht der gesunde Menschenverstand zugrunde liegt, ist als rechtswidrig anzusehen."

Viertens: Ebenso wichtig ist die gründliche Auswertung im Nachhinein. Alle Maßnahmen müssen begutachtet und im Falle des Verstoßes gegen demokratische Normen sanktioniert werden. In Großbritannien gibt es die Tradition öffentlicher Untersuchungen in Fragen der nationalen Sicherheit. Die Iraq Inquiry endete 2016 mit der Verurteilung des Kriegseintritts und setzte damalige Akteure und die konservative Regierung erheblich unter Druck.

Die Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit kann nicht dauerhaft aufgelöst werden. Umso wichtiger ist ein belastbarer rechtlich-institutioneller Rahmen. Demokratien verfügen über die konzeptionellen und institutionellen Ressourcen, einen solchen Rahmen zu schaffen. Eine Vielzahl erfolgreicher Beispiele stimmt vorsichtig optimistisch.

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Quelle:
SZ vom 23.06.2017
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