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MARIO FORTUNATO; Mario Fortunato_sw

Mario Fortunato, 58, ist Schriftsteller. Er lebt in Italien und in Großbritannien. Aus dem Italienischen von Jan Koneffke.

(Foto: Rino Bianchi)

Das Unbehagen der Italiener an Europa und was daraus zu lernen ist.

Von Mario Fortunato

Sind die Italiener zu Antieuropäern geworden? Nach den Klagen von Ministerpräsident Matteo Renzi über die deutsche "Vorherrschaft" in der EU und nach einigen Meinungsumfragen ist es keineswegs abwegig, diese Frage zu stellen. Die typisch italienische Antwort darauf würde lauten: Es kommt darauf an. Verglichen mit der Stimmung bei unseren englischen Freunden wäre sie eindeutig "Nein". Dabei denke ich nicht an die hauptsächlich in London lebende und prosperierende Elite des Königreichs mit ihren wirtschaftlichen und kulturellen Interessen. Ich denke eher an die sympathischen und humorvollen Gesprächspartner in der englischen Provinz, die geradezu hasserfüllt reagieren, wenn man sie auf die EU anspricht.

Nein, so weit sind wir in Italien noch nicht. Sicher, es mangelt nicht an Unzufriedenheit mit dem als bürokratisch empfundenen Europa, das jahrelang vor der großen Zahl an Flüchtlingen und Immigranten die Augen verschloss und Sizilien mit dem Problem allein ließ, nur um in der Zwischenzeit den Durchmesser von Muscheln oder den Kilowattverbrauch von Staubsaugern zu regeln. Hintergrund dieser Stimmung ist eine beispiellose Wirtschaftskrise, die makroökonomisch überwunden sein mag, die aber im Alltag (und nichts anderes zählt für Menschen aus Fleisch und Blut) noch immer Opfer fordert: Armut und Arbeitslosigkeit. Für viele Italiener ist die Sache klar: Europa kostet mehr, als es bringt. Seit es den Euro gibt, sind wir nur ärmer geworden, in Brüssel regiert eine Klasse superreicher und nutzloser Technokraten.

Andererseits würde ich die jüngsten Ausfälle des italienischen Ministerpräsidenten auch nicht überbewerten. Wir Italiener neigen zu Übertreibung und Unbeherrschtheit. Hält man sich die Geschichte vor Augen, vor allem die jüngste, so ist leicht zu erkennen, dass die Regierungschefs meines Landes auf europäischer Bühne stets nur wenig zählten. Gerade das verführte sie dazu, die Stimme zu erheben, was sie umso großmäuliger wirken ließ. Doch keinem von ihnen wäre es je in den Sinn gekommen, wie in Großbritannien ein Referendum über die Zustimmung zur EU anzusetzen - ein wichtiger Unterschied.

Wir Schönwetter-Europäer igeln uns in unsere mittelmäßigen Egoismen ein

Überdies befürchte ich, dass sich das Problem keineswegs auf Italiener beschränkt. In Frankreich wird der Front National mit jeder Wahl stärker, Griechenland wurde vom bisherigen Brüsseler Rigorismus buchstäblich zermalmt. Wo ist in der Zwischenzeit das Projekt eines zivilisierten und solidarischen Europas mit offenen Grenzen und gemeinsamem Wohlstand geblieben? Angesichts des von Ungarn errichteten Stacheldrahtzauns oder der Beschlagnahme des kümmerlichen Rests an Bargeld, über den die Flüchtlinge noch verfügen, wenn sie die dänische Grenze erreicht haben, ist davon nicht mehr viel zu erkennen. Ich glaube, die nackte und hässliche Wahrheit lautet: Das Projekt für den europäischen Kontinent ist zu einer Zeit entstanden, in der allgemeiner Wohlstand und überwiegend sozialer Frieden herrschten. Jetzt haben sich die Dinge verändert, zum einen durch die Krise eines Entwicklungsmodells, das die Wirtschaft den Finanzmärkten unterworfen hat und das die Mittelschicht schrumpfen lässt, zum anderen durch den Terror islamistischer Gruppen, die in den Peripherien Europas beinahe mehr Anhänger finden als in der arabischen Welt. Und nun offenbart sich erneut die Gemeinheit des menschlichen Herzens. Wir Schönwettereuropäer igeln uns in unseren mittelmäßigen nationalen Egoismen ein, unfähig, nicht nur mit anderen Kulturen, sondern auch und vor allem mit uns selbst, unseren Wurzeln, unserer Identität, ein Gespräch zu führen.

Die gute Nachricht: Nicht die Masse schreibt Geschichte. An der italienischen resistenza nahm anfangs nur eine Handvoll Menschen teil, nicht anders war es mit den Nazigegnern in Deutschland. Es sind Eliten, die Geschichte schreiben. Allerdings müssen diese Eliten, so sie ihren Namen verdienen, mehr als nur den passenden Slogan finden, um sich Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern - sie sollten vorher auch Shakespeare und Goethe gelesen haben, vielleicht noch Ovid und ein bisschen Aristoteles und Freud, sie sollten Michelangelo, Masaccio, Gauguin, Francis Bacon und Goya kennen. Sie sollten das Bauhaus schätzen und den Barock, Gaudì und Alvar Aalto, Fellini und Jean Renoir, Ingmar Bergmann, Leopardi, Thomas Mann, Virginia Woolf, Doris Lessing, Milan Kundera und Wislawa Szymborska. Mit anderen Worten: Sie sollten sich selber kennen.

Dies scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Europa tut sich schwer damit, eine echte politische und wirtschaftliche Gemeinschaft zu werden, weil seiner führenden Klasse nicht bewusst ist, dass Europa das Produkt einer jahrhundertealten Zivilisation ist, in der die Kultur immer wichtiger war als es die Kriterien von Maastricht, die Börsen in Mailand und Frankfurt oder auch die EZB je sein können. Ich sage das ohne jede Polemik: Es sind nicht die abstrakten und farbigen Prägungen auf hässlichen Euro-Scheinen, die unsere gemeinsamen Wurzeln ausmachen, sondern jene Künstler, die, ohne es zu wissen, unsere Identität erst erschaffen haben.

Ich weiß sehr wohl, dass ich in meiner Eigenschaft als Schreiberling nicht die geringste Autorität besitze - dennoch würde ich gerne, wenn es erlaubt ist, Angela Merkel, Renzi und allen anderen Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den bescheidenen Vorschlag unterbreiten, zur Vorbereitung ihrer nächsten Gipfeltreffen nicht nur die Dossiers zur Tagesordnung zu studieren. Sie sollten ihren Horizont erweitern und mit der Unterstützung besagter Dichter, Denker und Künstler der Vergangenheit und Gegenwart weniger als Politfunktionäre denn als Staatsmänner agieren.

Im Übrigen riskiert die Politik, dass sie zur schlichten Verwaltung verkommt, wenn sie immer nur auf dem jeweils untersten Niveau stattfindet, einem Niveau, von dem sie sich tragischerweise magnetisch anziehen lässt. Es ist letztlich das, was die Brüsseler Institutionen bis heute überwiegend betrieben haben, zur Freude der Populisten aller Schattierungen auf dem Kontinent. Mit dem sichtbaren Resultat, dass sie den schlimmsten antieuropäischen Gefühlen in der öffentlichen Meinung Auftrieb gaben und sie gelegentlich auch noch legitimierten.

Das führt uns ganz an den Anfang unserer Überlegungen zurück. Und damit an einen Punkt, an dem es uns nicht mehr besonders verwundert, wenn ein politischer Führer aus Furcht vor dem Verlust einiger Prozentpunkte bei den kommenden Wahlen, selbstvergessen und am Ende unvermeidlich dumm, auf billigen Wählerfang geht.

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