Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Lasst sie gehen!

Von Magnus Brechtken

Europa lernt gerade von den Briten einige Lektionen über die Vielfalt von Demokratien. Anders allerdings als man das auf der Insel gern wahrhaben möchte. Die erste Lektion: Man kann innenpolitische Probleme auf Dauer nicht durch den Fingerzeig auf andere kaschieren. Das aber ist seit Jahrzehnten die Funktion der Europa-Debatte in Großbritannien: Eine Gespensterbeschwörung, um draußen nach Schuldigen für die Folgen eines inneren Wandels zu suchen, dessen Konsequenzen man gern entkommen möchte. Es ist einfacher, auf Brüssel zu schimpfen, als nach den Ursachen zu fragen, warum das eigene Gesundheitssystem schlecht funktioniert, die Infrastruktur zerbröselt, die Fronten der Klassengesellschaft sich verfestigen oder die Frage zu klären, warum und woher über viele Jahrzehnte Einwanderer kamen.

Einflussreiche Milieus auf der Insel beschwören vermeintlich grandiose alten Zeiten. Sie mögen den Hinweis nicht, dass diese Vergangenheit nicht mehr ist als eine psychologisch angenehme Illusion. Es gab mal ein Britisches Empire, gewiss, und die Menschen auf der Insel genossen seinerzeit ein vergleichsweise hohes Maß an persönlicher Freiheit. Aber grandios waren diese Zeiten nur für wenige. Von jener Gruppe Aristokraten und Unternehmern abgesehen, die damals die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Kontrollmacht besaßen, lebten die meisten Briten in einfachsten Verhältnissen. Für die übergroße Mehrheit war das Empire vor allem eine mentale Wohlfühlwelt, an der sie teilzunehmen meinten und von deren wirtschaftlichen Effekten sie auch einige Jahrzehnte profitierten. Aber das liegt mehr als ein Jahrhundert zurück.

Es war eine wesentliche Konsequenz des Ersten Weltkrieges, dass sich der imperiale Anspruch in seinen Fundamenten auflöste. Den Schein aufrechtzuerhalten verlangte anhaltende Überdehnung. Diese Entwicklung beschleunigte sich mit dem Zweiten Weltkrieg, der das Land nahezu ruinierte. Die Suez-Krise von 1956 führte aller Welt vor Augen, dass das einstige Weltreich einige Gewichtsklassen abgestiegen war und seine Wünsche denen der Supermächte unterzuordnen hatte.

Das Commonwealth, als Auffangkonstruktion verlorener Weltrollen geschaffen, mochte als Placebo einstiger Größe wirken. Aber auch dies brachte Kosten und Ansprüche. Und es brachte Einwanderer aus ehemaligen Kolonien, die sich als neue Minderheiten konstituierten, lange bevor die Arbeitskräftewanderung in der Europäischen Union Fahrt aufnahm.

Die zweite Lektion: Die inneren Konflikte um das Verhältnis zu Europa spiegeln die demokratischen Defizite des britischen Wahl- und Repräsentationssystems. Mit Staunen hört man immer wieder, wie Politiker und Diplomaten die Musterhaftigkeit des britischen Parlamentarismus als Argument gegen den vermeintlich undemokratischen EU-Betrieb vorbringen. Das Argument ist irreführend. Ähnlich den Empire-Träumen lebt die britische Politik in einem Demokratieverständnis, das viele Staaten auf dem Kontinent lange überholt haben. Richtig ist, dass der britische Parlamentarismus bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein Vorreiter politischer Beteiligungsrechte war. Das Unterhaus erlangte über die Jahrhunderte mehr Macht, als "Volkes Stimme" in den meisten Ländern des Kontinents. Bis zur Gegenwart demonstrieren die Parlamentsdebatten das Selbstbewusstsein dieser Tradition.

Aber was einst fortschrittlich war, wirft seit Jahrzehnten Schatten. Große Teile der Wählerschaft sind nicht im Parlament repräsentiert, Millionen Wähler und deren Anliegen bleiben von Westminster ausgeschlossen. Grund ist die Tradition des Mehrheitswahlrechts, nach der nur eine Person je Wahlkreis ins Unterhaus gelangt. Es genügt die einfache Mehrheit der Stimmen. So erhielten die britischen Grünen bei der Wahl im April 2015 mehr als 1,1 Millionen Stimmen, aber nur einen Sitz im Parlament. Die Scottish National Party erhielt mit 1,4 Millionen wenige Stimmen mehr, aber 56 Sitze.

Noch krasser traf es die United Kingdom Independence Party (Ukip). Für sie votierten mehr als 3,8 Millionen Wähler, was 12,6 Prozent entsprach, sie gewann aber nur einen von 650 Sitzen. Die Konservativen erhielten als Wahlsieger mit 11,3 Millionen gerade dreimal so viele Stimmen wie Ukip - aber 331 Sitze. Ihnen genügten 36,9 Prozent für die absolute Regierungsmehrheit. Diese Ungleichgewichte zwischen Wählerwünschen und Parlamentsmandaten sind keine Ausnahme, sondern liegen im System. Die in Westminster fernsehwirksam debattierenden Parlamentarier spiegeln weder die Breite der politischen Strömungen im Land, noch repräsentieren sie die Vielfalt der abgegebenen Wahlwünsche. So dominieren Konservative und Labour, die keine Motivation haben, etwas zu ändern. Das Wahlsystem befördert die Kultur der Klientel- und Prominenzpolitiker, für die jede einfache Stimmenmehrheit im Wahlkreis wichtiger ist als die strategischen Ziele der Partei oder des Landes.

Die Konfrontation zwischen den beiden großen Parteien spiegelt sich auch in der Presse. Schroffe Attacken im Dienst der eigenen Interessen liegen in deren Genetik. Die Klassengesellschaft verstärkt den Effekt des "us" gegen "them". In all diesen Erfahrungen vermitteln sich radikale Angebote vielen Wählern als besonders verlockend. Ob hin zu ultramarktwirtschaftlich wie unter Margaret Thatcher oder Richtung links außen wie derzeit Machtgruppen in der Labour Party - ein Regierungswechsel bedeutet in der Regel auch einen scharfen Politikwechsel.

Womit wir bei der dritten Lektion sind: Die Briten führen vor, dass sich komplexe außenpolitische Fragen wie die EU-Teilhabe einer hoch entwickelten und mit dem Ausland verwobenen Volkswirtschaft nicht in plebiszitären Konfrontationen lösen lassen. Gerade die Brexit-Befürworter haben bei ihren fabelhaften Versprechen immer wieder "nationale Interessen" beschworen. Sie erfahren gerade, mögen aber nicht wahrhaben, dass auch die EU-Mitglieder Interessen haben und dass es nicht die Aufgabe der Europäischen Union sein kann, mit ihren Verhandlungsangeboten die innerbritischen Probleme zu lösen.

Im Gegenteil: Wenn die Brexiteers die EU verlassen wollen, um außerhalb Wettbewerbsvorteile zu gewinnen, wird man der EU kaum verwehren können, ihre Politik im eigenen Interesse zu gestalten. Was immer die Europäische Union im Zuge der von Großbritannien betriebenen Trennung an wirtschaftlichen Folgen gewärtigen muss, wird erträglich sein im Vergleich zu den langfristigen Kosten jeder Renationalisierung, Abschottung und Zerstörung des europäischen Friedensmodells.

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Quelle:
SZ vom 20.11.2018
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