Außenansicht:Lampedusa ist nicht Ellis Island

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Europa sollte Armutsmigranten abweisen, aber ihren Heimatländern helfen.

Von Rudolf G. Adam

Perspektivlosigkeit, Armut und die Suche nach einem besseren Leben sind nachvollziehbare Gründe, um sein Land zu verlassen. Millionen Europäer haben im 19. Jahrhundert genau dies getan und sich über den Atlantik aufgemacht. In Ellis Island wurden sie von der amerikanischen Freiheitsstatue begrüßt, mit einer einladenden Geste, obwohl die meisten der Ankommenden keine Flüchtlinge im Sinne der heutigen UN-Konvention waren, keine politisch Verfolgten. Sie waren Immigranten, ebenso wie heute die meisten boat people aus Afrika.

Im 21. Jahrhundert haben sich die Dinge umgekehrt, Europa selbst ist zum Anziehungspunkt geworden. Dennoch gibt es gute Gründe, weshalb sich Europa heute das Motto der Freiheitsstatue nicht zum Vorbild nehmen sollte: "Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure kauernden Massen, die sich sehnen, frei zu atmen den elenden Unrat eurer wimmelnden Küste."

Zunächst zu den Ausmaßen des Phänomens. 2014 sind mindestens 240 000 boat people über das Mittelmeer gekommen, davon 170 000 über die zentrale Route (Libyen-Lampedusa/Malta/Sizilien). Dabei werden nur die Aufgegriffenen gezählt; diejenigen, denen es gelingt, unbemerkt an Land zu gelangen, bleiben unberücksichtigt. Neben echten Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien kommen vor allem Menschen, denen es um bessere wirtschaftliche und finanzielle Perspektiven geht.

In Afrika kommen drei Trends zusammen. Erstens wächst derzeit das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und den Staaten südlich der Sahara. In einer zunehmend vernetzten Welt werden derart eklatante Differenzen immer stärker dynamische Ausgleichseffekte nach sich ziehen. Zweitens wächst das demografische Gefälle: War Afrika 1950 ein weitgehend leerer Kontinent, stößt die Bevölkerung in der Sahelzone an Wachstumsgrenzen, die mit den dort verfügbaren technischen Möglichkeiten kaum ausgeweitet werden können.

1950 zählte der Raum der heutigen EU 450 Millionen Einwohner, der gesamte Kontinent Afrika nicht mehr als 100 Millionen. Heute lauten die entsprechenden Zahlen: 500 Millionen und 1 Milliarde; um 2050 werden sie 480 Millionen und 2 Milliarden lauten. Ein Bevölkerungsverhältnis zwischen Europa und Afrika von 4:1 wird sich in 100 Jahren umkehren.

Drittens sind in Afrika keine politischen Wunder zu erwarten. Weder wird sich in Somalia oder Libyen Frieden herbeizaubern lassen, noch werden es Eritrea oder die Subsahara-Staaten über Nacht zu Wohlstand oder Demokratie bringen.

In der Debatte über die boat people ist angeklungen, ein hohes Todesrisiko wirke abschreckend; deshalb dürfe man es nicht zu sehr reduzieren. Das Argument ist zynisch, unmenschlich und auch schlicht falsch. Risiken werden subjektiv eingeschätzt. Ein Vergleich der Zahlen der Ertrunkenen und der heil Gelandeten ergibt ein Todesrisiko von drei Prozent. Schlägt man noch das Risiko der Sahara-Durchquerung darauf, ergibt sich ein Gesamtrisiko von vier Prozent. Das heißt, von 25 kommt einer um - oder von 100 kommen 96 durch. Ein solches Risiko ist aus europäischer Sicht abschreckend hoch; es muss aber mit erhöhten Lebensrisiken in den Herkunftsstaaten verglichen und in der Wahrnehmung der Migranten gesehen werden.

Angesichts dieser Dimensionen der Migrationswelle führt kein Weg an der Feststellung vorbei: Die EU kann nicht jeden aufnehmen; Staaten wählen Einwanderer aus, nicht umgekehrt. Es geht um gesellschaftliche Integrations- und Absorptionsfähigkeit, um Arbeitsmärkte, um Bildung, Kommunikation und berufliche Qualifikation, schließlich um Sicherheit, aber auch um Afrikas eigene Zukunft. Die Lebensumstände in vielen afrikanischen Ländern sind buchstäblich "zum Davonlaufen"; wenn aber diejenigen, die Unternehmergeist und Wagemut zeigen, sich auf und davon machen - welche Hoffnung bleibt dann für eine Wende zum Besseren?

Was ist zu tun, damit das entsetzliche Sterben auf dem Mittelmeer ein Ende hat, Europa aber nicht in die Falle tappt, sich für eine Migrationswelle von historischen Ausmaßen zu öffnen? Migranten - boat people aus Afrika dürften überwiegend in diese Kategorie fallen - sollte mit einer dreiteiligen Politik begegnet werden.

Erstens sollten die Mitgliedstaaten der EU klarer definieren, welche Menschen unter welchen Voraussetzungen legal einreisen und bleiben können; wir brauchen eine EU-weit abgestimmte, eindeutige Einwanderungspolitik. Wenn wir Einwanderung brauchen, sollten wir unmissverständlich klarmachen, wen wir dabei im Auge haben. Das Visa-Regime sollte entsprechend angepasst werden. Dann können diese Menschen auf dem sicheren Luftweg zu uns kommen. Diese Entscheidung kann in den Herkunftsländern von diplomatischen Vertretungen getroffen werden; hierzu bedarf es keiner "processing center" in Afrika; denn wer sich bereits auf den Weg gemacht hat, wird sich nicht durch den Negativbescheid von seinem Plan abbringen lassen, sondern weiter versuchen, auf illegalen Wegen Europa zu erreichen.

Die EU sollte in den Herkunftsländern klarmachen, dass Menschen, die diese Kriterien nicht erfüllen, keine Chance auf eine dauerhafte Bleibe in Europa haben; sie werden gerettet, aber nach Afrika und über die Aufnahmelager zurückgebracht. Die Gewissheit, selbst nach überstandenen Strapazen keine Aufnahme in der EU zu finden, dürfte potenzielle Migranten wirksamer davon abhalten, sich auf den Weg zu machen, als das Todesrisiko der Überfahrt.

Das dritte Element müsste ein grundsätzlich neu konzipiertes und großzügigeres Hilfs- und Kooperationsangebot an die Herkunftsländer in der Sahelzone und Westafrika sein. Der EU-Binnenmarkt müsste sich gerade im Agrarbereich Produkten aus diesen Ländern stärker öffnen. Je mehr Produkte legal in die EU kommen können, umso weniger Menschen werden illegal kommen wollen. Investitionen in diesen Ländern müssten gefördert, der Bildungsstandard müsste systematisch angehoben werden. Die EU hat eine östliche Nachbarschaftspolitik entwickelt aus der Einsicht, dass ein zu großes Wohlstandsgefälle Migrationsbewegungen auslöst und Sicherheit und Stabilität nur zu haben sind, wenn sie auch in den Nachbarregionen Wurzeln schlagen. In ähnlicher Weise müsste sie ihre südliche Nachbarschaftspolitik erweitern; der in Barcelona 1995 begonnene Prozess, die südlichen Mittelmeeranrainerstaaten stärker mit der EU zu verbinden, der 2008 in der Einrichtung einer Union für den Mittelmeerraum gipfelte, müsste für Staaten südlich der Sahara geöffnet werden. Nur dies würde langfristig die Push-Faktoren in den Herkunftsländern Afrikas reduzieren.

© SZ vom 03.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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