Außenansicht:Kybernetische Revolution

Lesezeit: 3 Min.

Bernhard Schölkopf, 50, ist Direktor der Abteilung für Empirische Inferenz am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen. Er ist Mathematiker, Physiker und Informatiker. (Foto: Uni Tübingen)

Künstliche Intelligenz wird Leben und Arbeiten so stark ändern wie einst Elektrizität. Europa braucht dafür die besten Köpfe.

Von Bernhard Schölkopf

Vor 60 Jahren veröffentlichte die New York Times einen unscheinbaren Artikel, mit dem Titel "New Navy Device Learns by Doing". Er beschreibt das von dem Psychologen Frank Rosenblatt entwickelte Perzeptron, einen kleinen Computer, der in der Lage sein sollte zu gehen, zu sprechen, zu sehen, zu schreiben und sich zu reproduzieren. Rosenblatt führte in Anwesenheit von Journalisten vor, wie ein Perzeptron lernt, "in 50 Versuchen links und rechts zu unterscheiden". Gleich einem Menschen, so Rosenblatt, lerne das Ding aus Erfahrung, und im Prinzip sei es möglich, künstliche Gehirne zu bauen, die sich ihrer Existenz bewusst seien.

Die Entwicklung des Perzeptrons fiel auf fruchtbaren Boden. Claude Shannon hatte gerade die Informationstheorie begründet, und Norbert Wiener erforschte Informationsverarbeitung in Lebewesen und Maschinen. Ein neues Forschungsgebiet namens Kybernetik war geboren, und vielerorts wurden neue Lernmaschinen untersucht, die natürlichen Nervennetzen nachempfunden waren.

Zur selben Zeit entstand auch die artifizielle Intelligenz (AI), die dem Perzeptron bald den Garaus machen sollte und zur Geburtshelferin der modernen Informatik wurde. Wirtschaftliches Interesse an der AI führte zur Gründung von Einrichtungen wie dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Dennoch büßte die AI ihren Platz im Zentrum der Informatik langsam ein - hochgesteckte Erwartungen wurden oft nicht erfüllt.

Heute erlebt die AI eine Renaissance, und zwar - Ironie der Geschichte - durch eine Rückkehr lernender Systeme. Diese ermöglichen Anwendungen wie Objekterkennung oder Übersetzungen, die zuvor unlösbar zu sein schienen. In aller Munde sind Begriffe wie AI-Revolution, Big Data Revolution und digitale Revolution.

Der Vergleich mit Revolutionen ist in der Tat instruktiv. Die erste industrielle Revolution fußte auf der Gewinnung von Energie aus Wasserkraft und Dampf; die zweite auf ihrer Elektrifizierung. Die gegenwärtige Revolution ersetzt Energie durch den Begriff der Information - jener Paradigmenwechsel, der von der Kybernetik eingeläutet worden war. Sie markiert damit den Beginn der jüngsten Revolution und wäre auch als Namensgeber besser geeignet. Das Wort "digital" passt schon deshalb nicht, weil das Perzeptron kein digitaler, sondern ein analoger Computer war.

Wie Energie scheint auch Information eine Erhaltungsgröße der Physik zu sein, kann also nicht erzeugt, sondern nur gewandelt werden. Wie Energie kann Information von Menschen verarbeitet werden, aber um sie im industriellen Maßstab zu verarbeiten, sind Computer und maschinelle Lernverfahren vonnöten. Die kybernetische Revolution kann ähnlich dramatische Auswirkungen auf das Leben und Arbeiten der Menschen haben wie die beiden vorangegangenen. Doch sind wir darauf vorbereitet?

Cédric Villani, einer der führenden Mathematiker unserer Zeit, wurde vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron beauftragt, über eine französische AI-Strategie nachzudenken. Kurz zuvor war in Großbritannien das Alan Turing Institute gegründet worden. Villani reiste unter anderem nach China, wo im vergangenen Jahr 48 Prozent des weltweiten finanziellen Start-up-Investments in AI getätigt wurden (2016 lag der Prozentsatz noch bei elf Prozent). Villani besuchte Anfang März auch Berlin, wo er in der französischen Botschaft seine Schlussfolgerungen vorstellte und uns einlud, gemeinsam mit Frankreich die AI zu erforschen. Die Antwort des Vertreters aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung fiel so aus, dass ein Gast im Publikum spontan ausrief: "In welcher Welt leben Sie eigentlich?"

Es reicht nicht aus, auf Forschungszentren hinzuweisen, die seit Jahrzehnten bestehen, wenn sich die Methoden der AI wesentlich weiterentwickelt haben und zudem auf einer Fortune-Liste der 100 führenden AI-Start-ups Deutschland gar nicht vertreten ist.

Wer sich mittelfristig eine Führungsposition in der AI sichern will, sollte zwei Dinge tun: zum einen bestehende AI-Methoden breit zum Einsatz bringen, durch Förderung von Start-ups, Technologietransfer und angewandte Forschung in Fraunhofer-Instituten oder dem DFKI. Zum anderen bedarf es strategischer Investition in die Grundlagenforschung. Die Lernverfahren von morgen werden heute erfunden. Die maschinelle Intelligenz benötigt nicht nur Daten, sondern vor allem Köpfe.

Nachwuchswissenschaftler wollen dort lernen, wo die Besten forschen. Das sind oft die USA

Um beide tobt ein internationaler Wettstreit. Die einschlägigen Firmen rekrutieren konsequent die besten Talente im Bereich des maschinellen Lernens. Öffentliche Einrichtungen haben oft das Nachsehen, was Europa besonders stark trifft, da hier die AI-Grundlagenforschung wesentlich von Universitäten und Forschungsinstituten geleistet wird. Es mangelt an international führenden Zentren, und viele unserer angehenden Doktoranden haben Angebote von amerikanischen Elite-Universitäten. Dort arbeiten Professoren aus Europa, die in den USA zu akademischen Superstars und erfolgreichen Unternehmern geworden sind. Nachwuchswissenschaftler wollen dort lernen, wo die Besten forschen, und im Zeitalter von Google kann jeder Student ganz einfach nachsehen, wer erfolgreich auf den Top-Konferenzen publiziert.

Es ist daher entscheidend, Exzellenzzentren in Europa zu stärken, Zugpferde zu halten oder nach Europa zurückzuholen. Wir brauchen die attraktivsten Angebote für die besten Studenten und Nachwuchswissenschaftler. Unsere Universitäten haben lange von ihrer akademischen Tradition gelebt, stoßen aber beim maschinellen Lernen an ihre finanziellen Grenzen.

Die Max-Planck-Gesellschaft hat frühzeitig in diese Zukunft investiert und 2011 das Institut für Intelligente Systeme gegründet. Es ist weltweit anerkannt und bildet gemeinsam mit den lokalen Universitäten sowie der ETH Zürich, der Universität Cambridge und anderen internationalen Spitzeninstitutionen herausragende Nachwuchswissenschaftler aus. In ihrem jüngsten Gutachten, das die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) gerade der Bundeskanzlerin übergeben hat, sind Tübingen und Stuttgart führend bei AI.

Ein Anfang ist gemacht, mehr nicht. Jetzt müssen wir einen Verbund der Top-Standorte in Europa schmieden, mit fachlich wie räumlich grenzüberschreitender Ausbildung im Bereich AI, gemeinsamen akademischen Laufbahnen sowie großzügiger Unterstützung von Start-ups. Europa sollte seine akademischen und gesellschaftlichen Traditionen einbringen und eine führende Rolle in der Erforschung des maschinellen Lernens und der Gestaltung unserer Zukunft spielen.

© SZ vom 16.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: