Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Keine Panik

Unsicherheit und Angst zu befördern verspricht kurzfristig hohe Aufmerksamkeit und billige Wahlerfolge. Langfristig aber schaden Panikmache und Depression der Demokratie. "Wir schaffen das" ist die bessere Botschaft - ihr müssen allerdings auch Taten folgen.

Gastbeitrag von Ralf Fücks

Es überrascht nicht, dass der unrühmliche Abgang des deutschen Teams bei der Fußball-Weltmeisterschaft eine intensive Nabelschau der Nation nach sich zieht. Eine mythische Verbindung zwischen dem Auftritt der Nationalmannschaft und dem deutschen Seelenzustand zu konstruieren, hat eine lange Tradition. Von der Wiederauferstehung bei der WM 1954 zu den Parallelen zwischen der antiautoritären Revolte von 1968 und dem kreativen Offensivfußball Anfang der 70er-Jahre, vom Rumpelfußball der 80er und der Kanzlerschaft Kohls bis zum multikulturellen, spielfreudigen Deutschland der Ära Klinsmann und Löw - solche Analogien zwischen Fußball, Zeitgeist und Politik sind eine hübsche Fingerübung, solange man sie nicht allzu ernst nimmt.

Dieses Mal aber wurde es bitter ernst. Den Vogel abgeschossen hat der Spiegel mit seiner Titelgeschichte: "Fußball, Politik, Wirtschaft - Es war einmal ein starkes Land", illustriert mit einer schwarz-rot zerlaufenden Deutschlandfahne. Düsternis und Alarm! Die Erklärung in den Worten der Redaktion: "Wir zeigen einen verdrehten Gefühlszustand: Eine schwere Regierungskrise, die Dieselaffäre und das Ausscheiden aus der WM drücken aufs Gemüt." Aus einigen groben Fakten - Koalitionsstreit, vermurkste Großbaustellen, Dieselgate - und viel Stimmung entstand das Bild einer Republik im Niedergang. Die Politik handlungsunfähig, die Wirtschaft auf dem absteigenden Ast, die Gesellschaft polarisiert und ängstlich.

Auch in anderen Medien war von satter Selbstzufriedenheit die Rede, die eine falsche Stärke solange vorgaukelt, bis wir unsanft auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen. Darin steckt ein Gran Wahrheit: Die mediale Selbstinszenierung des WM-Teams war ebenso bombastisch wie überheblich. Sie kippte in Hilflosigkeit und Hosenflattern, als es gegen Südkorea zum Schwur kam. "Die Wahrheit liegt auf dem Platz", pflegte Trainer Otto Rehhagel zu sagen.

Und tatsächlich findet man auch jenseits der "schönsten Nebensache der Welt" Anzeichen für das "Hochmut kommt vor dem Fall"-Syndrom. Die stolzen deutschen Autokonzerne sind von ihm befallen. Sie fühlten sich zu sicher als Champions der Ingenieurskunst und gehätschelte Lieblingskinder der Politik. Dass sie sich zu betrügerischen Manipulationen großen Stils hinreißen ließen, zeugt von Realitätsverlust und aufkommender Panik. Die Kluft zwischen Umweltauflagen und Dieselmotor war offenbar nur noch durch Fake-Technologie zu überbrücken. Auf dem Weltmarkt tauchen neue Konkurrenten auf, die verstärkt auf Elektromobilität und automatisiertes Fahren setzen. Unversehens gerät da das ganze Geschäftsmodell von Daimler, VW und BMW ins Wanken. Es droht ihnen das gleiche Schicksal wie der Nationalmannschaft: Weltmeister von gestern.

An diesem Beispiel zeigen sich die Herausforderungen, vor denen die Bundesrepublik steht. Mit der Globalisierung verlieren die alten Industrieländer ihr Monopol auf Hochtechnologie. Neue Wettbewerber treten auf. Der Klimawandel entwertet die CO₂-intensiven Technologien vom Kohlekraftwerk bis zum Verbrennungsmotor. In einer Zeit, in der es mehr denn je auf Innovation und Qualität ankommt, fehlt es hierzulande an Ingenieuren und Fachpersonal. Unser Bildungssystem ist nicht auf die wachsende kulturelle und soziale Heterogenität der Schüler eingestellt. Zu viele fallen durch die Maschen und zu wenige erreichen die internationale Spitze.

In den Wachstumsbranchen der digitalen Ökonomie spielt die Musik in den USA und China, bei schnellen Breitbandverbindungen hinkt Deutschland hinterher. Wir vergessen gern, dass Wohlstand nicht durch Regulierung, sondern durch Erfindergeist und Unternehmertum entsteht. Zu allem Überfluss droht eine Phase von Handelskriegen und ökonomischem Nationalismus. Sie trifft das exportorientierte Modell Deutschland im Kern. Das transatlantische Bündnis zerfällt, in der europäischen Gemeinschaft wachsen die Fliehkräfte.

Es wäre fahrlässig, die Bruchlinien im Erfolgsmodell Deutschland zu ignorieren. Schönreden ist keine gute Alternative zur Panikmache. Das Tempo durchschlagender Veränderungen ist hoch, die Herausforderungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt und wirtschaftlichen Wohlstand enorm. "Weiter so" geht nicht mehr. Gleichwohl besteht kein Grund, den Niedergang des Landes an die Wand zu malen. Das Schwanken zwischen Größenwahn und Depression - himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt - ist eine alte deutsche Krankheit.

Trotz siebzig Jahren Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik spürt man immer noch einen Mangel an gelassenem Selbstbewusstsein und ein Übermaß an Angst. Atomtod, Waldsterben, Gentechnik, Flüchtlinge sind Chiffren für solche kollektiven Übersteigerungen. Das Trauma des Zweiten Weltkriegs, der moralische Absturz im Nationalsozialismus, die Erfahrungen der großen Depression und des Verlusts der Ersparnisse ganzer Generationen sitzen tief. Daraus rührt ein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit. Man sieht die Gefahren schärfer als die Chancen, die im Wandel liegen.

Dabei haben wir gute Gründe, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Die demokratischen Institutionen von heute sind viel robuster als in der Weimarer Republik, und die Demokratie ist viel tiefer in der Gesellschaft verankert. Wir müssen angesichts der AfD nicht in Faschismus-Panik verfallen. Das gilt auch für die wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Deutschland verfügt über ein großes wissenschaftliches und industrielles Potenzial, einen starken Mittelstand, eine gut ausgebaute Infrastruktur. Trotz des nachlassenden Elans der Politik sind wir einer der Vorreiter für umweltfreundliche Technologien. Die Staatsfinanzen lassen viel Spielraum für Zukunftsinvestitionen. Neben den Leuchttürmen Berlin, München und Hamburg gibt es eine Vielzahl attraktiver Städte, die junge Menschen aus aller Welt anziehen. Wenn wir uns nicht selbst im Weg stehen, haben wir alle Voraussetzungen, auch zukünftig ein erfolgreiches Land zu sein.

Unsicherheit und Angst bilden den Resonanzboden für die antiliberale Revolte in Europa und Amerika. Freunde der Demokratie sollten nicht auf dieser Klaviatur spielen, auch wenn das kurzfristig höhere Auflagen oder billige Wahlerfolge verspricht. "Wir schaffen das" ist die bessere Botschaft. Ihr müssen allerdings auch Taten folgen. Die Demokratie muss liefern. Nur dann gewinnt sie verlorenes Vertrauen zurück.

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Quelle:
SZ vom 10.07.2018
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