Integration von Zuwanderern:Nicht über Religion ausgrenzen, sondern über Sprache und Bildung integrieren

Community Initiative Works To Reduce Violence In Immigrant-Heavy District

Zuwanderer muslimischen Glaubens auf einem mit einer deutschen Fahne geschmückten Balkon in Berlin (Bild von 2014).

(Foto: Getty Images)

Eine kollektive Identität europäischer Muslime gibt es nicht. Vielen sind Ausbildung und soziale Stellung wichtiger als die Religion. Hier sollte die Integration ansetzen.

Gastbeitrag von Friedrich Wilhelm Graf

In den Debatten um die Krise Europas ist heute viel von gemeineuropäischen "Werten" die Rede. Beschworen werden das "christliche Abendland", die "jüdisch-christliche Kultur" und seit einigen Jahren gar eine "christlich-jüdische Leitkultur". Solche Formeln sind äußerst interpretati-onsoffen und können von konkurrierenden politischen Akteuren höchst unterschiedlich gedeutet werden.

Sie blenden zudem die hohe religiöse Verschiedenheit und speziell die konfliktreiche Vielfalt des Christlichen in Europa aus. Die christlichen Symbolwelten sind in sich äußerst spannungsreich und zwiespältig. Sie konnten ganz unterschiedlich ausgelegt werden. So etwas wie "das europäische Christentum" gibt es deshalb nicht.

Die Rede von "den christlichen Wurzeln unserer Kultur" ist bestenfalls naiv

Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein lassen sich elementare Spannungen zwischen den diversen östlich-orthodoxen Christentümern und den lateinischen Kirchen beobachten, die wiederum seit bald 500 Jahren durch die religionskulturellen Gegensätze zwischen der römisch-katholischen Kirche und den verschiedenen protestantischen Kirchen der Lutheraner, Calvinisten, Anglikaner und Baptisten geprägt sind.

Diese Christentümer haben jeweils ganz eigene Ethiken ausgebildet, sodass die Rede von "den christlichen Wurzeln unserer Kultur" bestenfalls naiv ist. Die orthodoxen Christentümer sind, soziologisch gesehen, zumeist Ethno-Religionen, in denen Raum, nationales Territorium und Ideale ethnischer Homogenität sakralisiert werden. So lehnen ihre Klerikereliten die Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern meist ab.

Dagegen haben sich die lateinischen Christentümer nach langen internen Kul-turkämpfen inzwischen ein universalisti-sches Menschenrechtsethos zu eigen gemacht, in dem vorstaatliche Freiheitsrechte des Individuums den Vorrang vor natio-nalstaatlich vorgestellten Gemeinschafts-werten haben.

Auch die Glaubenswelten der jüdischen Minderheiten in Europa sind alles andere als einheitlich. Die überkommene religiöse Vielfalt in Europa wird durch die unterschiedlichen Rechtssysteme noch verstärkt. Die Europäische Union kennt kein einheitliches Religionsverfassungsrecht, und so gibt es einige Mitgliedstaaten mit Staatskirchen, andere mit "hinkender Trennung" von Staat und Religionsgemeinschaften oder auch, im Fall der Laïcité Frankreichs, eine radikale Trennung.

Viele als Muslime bezeichnete Einwanderer pflegen keine starke religiöse Praxis

So vielfältig wie die Christentümer Europas sind auch die Lebenswelten europäischer Muslime. Nicht nur spielt der Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten eine große Rolle. Die muslimischen Minderheiten in den einzelnen europäischen Gesellschaften sind auch stark von je eigenen historischen Erfahrungen und konkurrierenden Traditionen geprägt. Die stereotype Rede von "den europäischen Muslimen" hilft wenig. Was hat ein Pakistaner in Birmingham mit einem jungen Deutschtür-ken aus Kreuzberg gemein? Oder der schon zu Zeiten der Diktatur des Schahs aus dem Iran vertriebene Chefarzt in Stockholm mit dem arbeitslosen Algerier der dritten Generation in Marseille?

Indem sie von Akteuren der Mehrheitsgesellschaft jeweils als Muslime bezeichnet und wahrgenommen werden, schreibt man ihnen über Religion eine gleiche kollektive Identität zu. Selbst wenn sie religiös engagiert sind, wird dies ihren je eigenen Erfahrungswelten nicht gerecht. Für junge Deutschtürken in Berlin spielt das Thema Kolonialismus keine Rolle. Sie sind Kinder oder Enkel von Arbeitsmigranten, die der deutsche Staat angeworben hatte. Bei Nachkommen von Algeriern in Frankreich ist dies ganz anders, hier bleiben die Traumata der Kolonialkriege stark präsent. Ähnlich ist es bei Migranten aus den Kolonien des Britischen Empire in Großbritannien.

Einwanderer müssen über Sprache und Bildung integriert werden

Zwar streiten die Experten darüber, wie wichtig religiöser Glaube für die Selbstdeutungen der so unterschiedlichen muslimischen Minderheiten in Europa überhaupt ist. Doch hat sich gezeigt, dass viele von der Mehrheitsgesellschaft primär als Muslime bezeichnete Einwanderer keine starke religiöse Praxis pflegen und Elemente wie ethnische Herkunft, Berufsausbildung und soziale Stellung für ihre Identitätskonstruktion viel wichtiger sind, als es ihr religiöser Glaube ist.

Für die Integration dieser Einwanderer gilt deshalb: Man muss das Erlernen der deutschen Sprache fördern und so ihre kommunikativen Fähigkeiten stärken. Man muss möglichst früh Zugänge zum Arbeitsmarkt eröffnen und ihnen vor allem Bildungschancen bieten. Man muss Einwanderern die Einsicht nahebringen, dass es in einer offenen, religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft allein die Rechtsordnung ist, die das friedliche Zusammenleben der vielen verschieden Denkenden und Lebenden ermöglicht. Rechtsgehorsam ist dabei prägnant zu unterscheiden von irgendwelchen "einheimischen Kulturwerten", auf die manche die Zuwanderer gern verpflichten möchten. Auf der Wiesn mögen auch Deutschitaliener Tracht tragen. Aber niemand darf ihnen dies vorschreiben.

Gern wird derzeit von "Heimat" geredet. Dies ist ein schwieriger, politisch vielfältig belasteter Begriff, der sich nur schwer in andere Sprachen übersetzen lässt. Heimat kann über Raumbezüge definiert werden: Heimat als Ort des Vertrauten, wo man herkommt und sich zu Hause fühlt, als Gegenteil des Fremden, Fernen. In religiösen Diskursen konnte Heimat auch ganz anders gedeutet werden: Oft betonten Christen, dass der Mensch hier auf Erden keine Heimat habe und seine wahre Heimstatt erst im Jenseits finde. Im zionistischen Diskurs war nicht das Herkunftsland, sondern das Ankunftsland, Palästina, "die wahre Heimat" der Juden. Andere erlebten Heimat da, wo sie sich wohlfühlten: ubi bene, ibi patria; wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland.

Im Duden heißt es zu Heimat: "Plural nicht üblich". Aber dies dürfte inzwischen falsch sein. Nur eine Minderheit der Deutschen lebt an dem Ort, an dem sie aufwuchs. Die meisten Deutschen haben einen Migrationshintergrund, indem sie etwa von Wuppertal nach München oder von Augsburg nach Berlin zogen. Inwieweit sie am Zielort ihrer Wanderung tatsächlich heimisch geworden sind, hängt von vielen Faktoren ab. Entscheidend ist dabei nicht der Glaube. Nicht ausgrenzen über Religion, sondern integrieren über Sprache und Bildung - dies dürfte die entscheidende Aufgabe sein, um Flüchtlingen und Migranten Chancen auf eine zweite, neue Heimat zu eröffnen.

Friedrich Wilhelm Graf, 67, ist emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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