Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Grenzenlos

Vor 25 Jahren wurde in Deutschland der Asylkompromiss geschlossen. Angesichts weltweiter Wanderungsbewegungen taugen solche nationalen Alleingänge heutzutage jedoch nicht mehr. Nötig ist eine zumindest europäische Strategie.

Von Vassilis Tsianos

Die erste "Flüchtlingskrise" im Deutschland der Nachkriegszeit lässt sich auf das Jahr 1980 zurückdatieren. Damals wurde zum ersten Mal die magische Zahl von 100 000 Geflüchteten erreicht. Und nicht nur das: Waren davor die meisten Antragsteller willkommene Flüchtlinge aus dem Ostblock, stammten nun viele aus nicht europäischen Ländern. Schon damals führte Deutschland die gleichen Debatten über "Asylmissbrauch" und "Grenzen der Belastbarkeit", doch das Grundrecht auf Asyl blieb vorerst unangetastet.

Als Anfang der 90er-Jahre der Asylkompromiss geschlossen wurde, war das keine Reaktion auf die befürchtete "Flut aus Afrika", sondern auf die neue Ost-West-Wanderung, die sich durch den unvorhersehbaren Systemwandel, die Grenzverschiebungen und Bürgerkriege auf europäischem Boden ergab. 400 000 Menschen stellten 1992 einen Asylantrag, die meisten davon aus ehemaligen Ostblockländern.

Am 26. Mai 1993 beschloss der Bundestag mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit durch CDU/CSU, FDP und SPD die Änderung des Asylrechts im Grundgesetz. Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 formulierte bis dahin mit der knappen Formel "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" ein individuelles Recht auf Schutz. 1993 wurde er um umfangreiche Ausführungen ergänzt, die das Grundrecht auf Asyl erheblich beschnitten. Was viele heute aber nicht mehr wissen: Der sogenannte Asylkompromiss beinhaltete weit mehr als das. Dazu zählten auch Vereinbarungen über Einbürgerungserleichterungen für die "zweite Generation", die Reform des Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts, die Einschränkung und jährliche Quotierung der "Aussiedlermigration" und die Option auf eine "Regelung zur Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung" durch ein Einwanderungsgesetz. Die parlamentarische Abstimmung vor 25 Jahren war somit nicht weniger als der erste große "Migrationskompromiss" und Vorlage für die rot-grünen Modernisierungspläne, die bis heute wirken.

Die gegenwärtige Krise des europäischen Asylsystems geht auf einen ähnlichen unvorhersehbaren Systemwechsel zurück, nämlich den Arabischen Frühling und die damit verbundenen Grenzverschiebungen und Bürgerkriege. Will die Politik diese große Herausforderung angehen, müsste sie zunächst eine Prämisse akzeptieren, die im aktuellen Diskurs zu wenig beachtet wird: Ein neuer Migrationskompromiss kann nicht mehr national erfolgen - er muss europäisch angelegt sein. Punktuelle Verschärfungen des deutschen Asylrechts als Reaktion auf populistische Debatten können dauerhaft nicht viel bewirken. Migrationsbewegungen sind nicht umfassend steuerbar, sie lassen sich nicht nach Bedarf herbeiführen oder beenden.

Was wir daher dringend brauchen, ist eine solidarische Europäisierung der Migrations- und Flüchtlingspolitik. Die Regeln dafür haben wir schon. Es sind die Kernelemente der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie der Genfer Flüchtlingskonvention, sie lauten: Nichtzurückweisung, Nichtdiskriminierung und Rechtssicherheit, wenn jemand den SchengenRaum betritt. Stattdessen konzentriert sich die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik jedoch weiter auf Abschottung, auf Sicherung und Kontrolle der Außengrenzen. Frontex wurde neu formiert als europäische Grenz- und Küstenwache. Auch innerhalb der EU-Grenzen sind viele wieder zu Binnengrenzkontrollen übergegangen, was die Solidarität untereinander eher schwächt.

Das auf Sicherheit und Technologie fokussierte Grenzmanagement läuft Gefahr, das Gebot der Nichtzurückweisung und der Nichtdiskriminierung zu unterwandern. Daher ist es dringlich, legale Zugangswege zum Schutz auf EU-Territorium zu schaffen. Auf den ersten Blick mag das bahnbrechend klingen, doch Deutschland und Europa müssen den Kurs ändern, wenn sie ihren Anspruch auf Menschenrechte als Wertegrundlage nicht aufkündigen wollen.

Einige Mitgliedsstaaten haben bereits Verfahren für die Einreise mit einem humanitären Visum durchgeführt. Diese könnten unter Einbeziehung des UNHCR ausgebaut werden. Und unter dem Stichwort "Fähren statt Frontex" gibt es Überlegungen, wie sichere Zugangswege ermöglicht und die Zahl der Toten verringert werden können.

Sichere Fährverbindungen über das Mittelmeer würden nicht nur unzählige Menschenleben retten, sondern auch der kommerziellen Fluchthilfe die Geschäftsgrundlage entziehen. Was wir dringend brauchen, ist eine Entkriminalisierung der Fluchtrouten sowie der humanitären Fluchthilfe. Dafür ist es nötig, die Richtlinien und Beschlüsse des Europäischen Parlaments und Rates zu überarbeiten, die eher Migranten und Fluchthilfe kriminalisieren, statt kriminell organisierten Trafficker-Netzwerken das Handwerk zu legen. Fischer und Kreuzfahrt-Kapitäne dürfen nicht Gefahr laufen, wegen Seenotrettung der Schleuserei bezichtigt zu werden oder, schlimmer, aus Furcht vor einer Anklage lebensrettende Hilfe zu verweigern.

Innerhalb der Europäischen Union müssen wir wegkommen vom fremdbestimmten Zuweisungssystem der Asylsuchenden, das durch die Dublin-Regelung und die Eurodac-Registrierung entstanden ist. Das derzeit aktuelle Verschiebesystem bringt ein unfaires, starkes Ungleichgewicht in der Verteilung von Menschen und Asylanträgen mit sich. Für eine grundlegende Neukonzeption brauchen Geflüchtete ein Mitspracherecht, wohin sie umgesiedelt werden sollen. Zudem müssten familiäre und soziale Zusammenhänge berücksichtigt werden, ebenso wie bereits vorhandene Exilgemeinschaften, über die Asylsuchende unterstützt und besser integriert werden können.

Die konsequente Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wäre ein großer Fortschritt, es würde heißen, dass Flüchtlinge auch nach der Anerkennung Freizügigkeit genießen. Eine weitere Konsequenz wäre ein europaweit vereinheitlichtes Asylverfahren. Dafür könnte das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) entsprechend ausgebaut und zum Beispiel in Deutschland beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) angedockt werden, das hierbei die meiste Kapazität und Erfahrung hat.

Und wir brauchen langfristig eine europäische Asyl-Entscheidungsinstanz, also etwa eine EU-Agentur für Migration, Asyl und Fragen des subsidiären Schutzes. Wir müssen uns darüber klar werden: Migration ist ein europäisches Thema, kein nationales.

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Quelle:
SZ vom 25.05.2018
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