Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Gerechtigkeit für Draghi

Der EZB-Präsident hat den Euro gerettet. Die deutsche Politik sollte ihn nicht weiter beschädigen.

Von Peter Bofinger

Die deutsche Kritik an der Europäischen Zentralbank ist so schrill geworden, dass sachliche Argumente nur noch schwer Gehör finden. Der Hauptvorwurf lautet, die Niedrigzinspolitik der EZB enteigne die deutschen Sparer. Dabei wird völlig übersehen, dass es für die Anleger neben der Verzinsung auch auf die Geldentwertung ankommt. Diese ist mit zuletzt 0,3 Prozent im historischen Vergleich äußert gering.

Bei der großen Präferenz der deutschen Sparer für Bargeld und zinslose Giroguthaben macht sich das sehr positiv bemerkbar. Zieht man von einer Verzinsung von null die Inflationsrate ab, resultiert daraus eine reale Rendite von etwas unter null. Damit stellen sich die Geldhalter wesentlich besser als in der Phase der D-Mark (1948 bis 1999) mit einer durchschnittlichen Inflationsrate von 2,7 Prozent und einem entsprechenden Wertverlust auf Bargeld und Sichteinlagen. Selbst wenn man in D-Mark-Zeiten sein Geld auf dem Sparbuch hielt, musste man über Jahre hinweg damit leben, dass die Zinsen geringer waren als die Inflation.

Das eigentliche Problem ist heute die Rendite langfristiger Anleihen. Hier ließ sich früher durchweg eine Verzinsung erzielen, die deutlich über der Inflationsrate lag. Allerdings gab es auch da dunkle Zeiten für die Anleger, weil der Fiskus bei der Zinsbesteuerung den Wertverlust durch die Inflation nicht berücksichtigt. So war in der Inflationsphase 1971 bis 1976 die inflationsbereinigte Anleiherendite nach Steuern (bei einem unterstellten Steuersatz von 40 Prozent) durchweg negativ. Und wenn Wolfgang Schäuble darüber unglücklich ist, dass deutsche Anleger zu geringe Anleiherenditen erzielen, kann er das leicht ändern. Er muss nur spezielle Anleihen für die Altersvorsorge herausgeben, die einen merklichen Zinsaufschlag gegenüber der Marktrendite aufweisen (man könnte sie "Schäuble Bonds" nennen).

Die Zentralbank wird mit ihrer Geldpolitik alleingelassen

Auch der Vorwurf, niedrige Zinsen würden die Ertragslage der Banken untergraben, überzeugt nicht. Daten der Bundesbank zeigen, dass die Zinsmarge der Banken, also die Differenz zwischen Zinserträgen und -aufwendungen von 2000 bis 2014 nahezu konstant geblieben ist, obwohl die kurz- und langfristigen Zinsen deutlich gesunken sind. Schließlich wirft man der EZB vor, mit den niedrigen Zinsen die Volatilität auf den Finanzmärkten zu erhöhen. Doch die Schwankung der Aktienkurse war 2002 und 2003 wesentlich höher als heute.

Entscheidend für die Beurteilung von Mario Draghi sollte zunächst die Tatsache sein, dass es ihm im Juli 2012 gelungen ist, den Euro vor den panischen Finanzmärkten zu retten. Beeindruckend ist dabei, dass er dies ohne den Ankauf einer einzigen Anleihe erreichte. Ein Auseinanderbrechen des Euro hätte für die deutsche Wirtschaft und vor allem die Arbeitsplätze fatale Folgen gehabt. Eine zweite Grundsatzentscheidung hat Draghi im Frühsommer 2014 getroffen. Es war klug, den Aufwertungstrend des Euro - damals wurde ein Kurs von fast 1,40 gegenüber dem Dollar erreicht - mit einem breiten Programm der quantitativen Lockerung zu begegnen. Wenn wir heute keine Deflation im Euro-Raum haben, zeigt das nicht, dass eine solche Politik nicht erforderlich gewesen wäre. Geldpolitik wirkt mit großer Verzögerung. Die Inflationsrate von heute ist deshalb das Resultat von Maßnahmen, die vor ein bis zwei Jahren getroffen wurden.

Die EZB hat über die Abwertung des Euro und sinkende Kreditzinsen die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Wirtschaft im Euro-Raum nach der Rezession der Jahre 2012 und 2013 wieder in Fahrt gekommen ist. Davon haben vor allem die Arbeitnehmer profitiert. Man darf daher bei den Verteilungswirkungen der EZB-Politik nicht nur an die Entwicklung der Vermögenspreise denken. Bei der Kritik an der EZB bleibt meist unerwähnt, dass es ein klares Mandat für ihre Politik gibt. Es war 2003 unter der Ägide ihres deutschen Chefvolkswirts Otmar Issing auf "unter, aber nahe bei zwei Prozent" fixiert worden. Derzeit liegen die Inflationsprognosen für 2017 bei 1,4 und für 2018 bei 1,6 Prozent. Für die EZB gibt es also überhaupt keinen Anlass für eine Kehrtwende bei den Zinsen. Wie würde die deutsche Öffentlichkeit wohl reagieren, wenn die EZB im umgekehrten Fall, also bei Inflationsprognosen von deutlich über zwei Prozent, plötzlich eine Zinswende nach unten einleiten würde?

Deutschland hätte somit allen Grund, Draghi dafür zu danken, dass es ihm unter schwierigen Bedingungen gelungen ist, den Euro-Raum zu stabilisieren und damit gleichzeitig auch die deutsche Wirtschaft zu beleben.

Das heißt nicht, dass man alle Entscheidungen der EZB gutheißen muss. Es ist riskant, wenn die EZB die Dosis immer weiter erhöht, zumal ein großer Teil der Wirkung, insbesondere auf den Wechselkurs, psychologischer Natur ist. Die Beschlüsse der EZB vom 10. März sind verpufft; das zeigt, dass eine Politik der ruhigen Hand mehr bringen kann als Aktionismus. Das Grundproblem besteht darin, dass die EZB als einziger handlungsfähiger Akteur auf der europäischen Ebene überfordert ist. Wenn die um Energiepreise und unverarbeitete Nahrungsmittel bereinigte Inflationsrate ("Kerninflationsrate") im Euro-Raum bei etwas unter einem Prozent liegt, ist das vor allem darauf zurückzuführen, dass die Löhne im Vergleich zur Produktivität nicht ausreichend erhöht werden. Hier könnten Gewerkschaften und Arbeitgeber des Euro-Raums einen wichtigen Beitrag zur Normalisierung der Preisentwicklung leisten, der einen schnellen Ausstieg aus der Nullzinspolitik ermöglichte. Deutschland könnte dabei eine Vorreiterrolle spielen, indem für ein oder zwei Jahre Tariferhöhungen beschlossen werden, die etwas oberhalb des Richtwerts liegen, der sich aus dem Produktivitätsfortschritt und der Inflation ergibt. Auch die Fiskalpolitik könnte einen Beitrag zu mehr Wachstum und damit zu einem etwas stärkeren Preisauftrieb leisten. Warum nutzt man nicht die niedrigen Zinsen für ein europäisches Investitions- und Zukunftsprogramm in den Bereichen digitale Netze, erneuerbare Energien und Energieeinsparung sowie Forschung und Entwicklung? Auch für kreditfinanzierte Investitionen im sozialen Wohnungsbau ließen sich die niedrigen Zinsen gewinnbringend einsetzen.

Es ist keine gewagte Prognose, dass der Euro-Raum noch schwierige Jahre vor sich hat. Und es ist sicher auch so, dass es im Interesse Deutschlands liegt, wenn der Euro dabei nicht auseinanderbricht. Bei alledem wird es ganz entscheidend auf die Überzeugungskraft von Mario Draghi ankommen. Deshalb ist die deutsche Politik gut beraten, die Reputation des EZB-Präsidenten nicht ohne Not zu beschädigen.

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Quelle:
SZ vom 21.04.2016
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