Im Bildungsbereich enthielt der Koalitionsvertrag eine handfeste Überraschung: den Nationalen Bildungsrat. Als Bildungsministerin Anja Karliczek dann Anfang Mai ihren Vorschlag für einen Bildungsrat vorlegte, stieß dieser auf wenig Gegenliebe. Dass sich Bund und Länder in dieser Sache so uneinig sind, überrascht indes kaum: In den 1970er-Jahren war die Idee zu einem solchen Gremium im Mahlwerk des deutschen Föderalismus gescheitert. Der aktuelle Gegenwind gegen das Projekt war zu erwarten, sind doch die Argumente und Interessenlagen heute die gleichen wie damals: Brauchen wir wirklich noch eine weitere Instanz neben der Kultusministerkonferenz? Sollen Wissenschaft und Schulpraxis mit der Politik auf Augenhöhe nach gemeinsamen Positionen suchen? Wie verhindern wir einen zahnlosen Tiger, in dem ehemalige Politiker und realitätsferne Idealisten unfinanzierbare Wunschvorstellungen zu Papier bringen?
Natürlich kann man über Organisation und Zusammensetzung des Bildungsrats streiten. Zielführender wäre es jedoch, auf die seit Längerem ungelösten Herausforderungen in unserem Bildungssystem zu schauen und zu überlegen, wie der Bildungsrat helfen kann, diese zu lösen. Inhalt sollte vor Strukturfragen und Zuständigkeiten gehen. Nur so werden wir künftig für gerechte und hochwertige Bildung im ganzen Land sorgen können.
Noch immer hängen Bildungschancen zu sehr vom Wohnort ab: In Bayern hat nicht einmal jeder fünfte Schüler einen Platz in einer Ganztagsschule, in Hamburg sind es fast alle. Fünfzehnjährige aus Sachsen sind in ihrem schulischen Leistungsniveau ihren Kameraden aus Bremen um Jahre voraus. In Bayern verlassen weniger als fünf Prozent aller Schüler die Schule ohne Hauptschulabschluss, in Sachsen-Anhalt dagegen fast zehn Prozent. Zudem ist der Bildungserfolg nach wie vor eng an die soziale Herkunft gekoppelt: Von 100 Akademikerkindern nehmen etwa 80 ein Studium auf; von 100 Kindern aus Nichtakademiker-Haushalten lediglich 27. Und nicht zuletzt bei der Inklusion gleicht Deutschland einem Flickenteppich.
Sechszehn Mal das Rad neu zu erfinden, ist eben nicht immer hilfreich. Ebenso wenig wie das Hin und Her bei Reformen; ob man nun acht oder neun Jahre bis zum Abitur brauchen soll, ist nur ein aktuelles unrühmliches Beispiel. Ohne verlässliche wissenschaftliche Erkenntnisse gerät Bildungspolitik zu leicht zum Spielball von Zeitgeist oder Ideologie. Ein gut aufgestellter Bildungsrat wird helfen, endlich die von Fachleuten empfohlenen und von Eltern ersehnten Standards für alle Länder zu installieren. Er könnte politisch-ideologische Auseinandersetzungen in sachlichere Debatten übersetzen und so das Schlingern in der Bildungspolitik mindern.
Ganztagsschulen, Inklusion, Digitalisierung, Lehrermangel - gemeinsame Lösungen sind nötig
Die Kultusministerkonferenz scheitert bislang daran, die Länder stärker hin zu einer gemeinsamen qualitätsorientierten Linie zu bewegen. Der Nationale Bildungsrat muss dies ändern, sonst hat er keine Daseinsberechtigung: Er sollte den Kultusministern den Rücken stärken, sodass sie notwendige Veränderungen leichter in ihren Ländern - und bei den Finanzministern - durchsetzen können. Erst dann steigt die lange ersehnte Verlässlichkeit in der Bildungspolitik.
Zum Start bieten sich im Schulbereich drei besonders dringliche Reformvorhaben an. Erstens: Gute Ganztagsschulen sind ein Schlüssel für gerechtere Bildungschancen. Der Ausbau verläuft fünfzehn Jahre nach Start des ambitionierten Investitionsprogramms jetzt wieder im Schneckentempo. Bundesweit wünscht sich eine große Mehrheit der Eltern einen Ganztagsschulplatz für ihr Kind, genauer: einen Platz in einer guten Ganztagsschule. Doch weder gibt es einheitliche Konzepte und Standards, die für die Qualität entscheidend sind, noch stehen auch nur annähernd genug Mittel für das milliardenschwere Unterfangen zur Verfügung. Nur wenn es von Wissenschaft und Praxis validierte Konzepte gibt, sollte der Bund den Ländern unter die Arme greifen. Solange jedes Land unter einer Ganztagsschule etwas anderes versteht, wird dies nicht geschehen.
Zweitens: Deutschland hat sich verpflichtet, die Inklusion, also das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf, zur Regel zu machen. Aus gutem Grund, denn mehr als 70 Prozent der an Förderschulen lernenden Jugendlichen verlassen diese ohne Abschluss. Der Streit über die Bedingungen bundesweiter Inklusion sorgt aber auch zehn Jahre nach dem Abkommen für Verwerfungen in den Bundesländern - auf Kosten aller Schüler und Lehrer. Auch hier fehlen bundesweite Qualitätsstandards. Wann hat ein Kind besonderen Förderbedarf, und was sind die passenden Rahmenbedingungen und nötigen Ressourcen für gutes gemeinsames Lernen? Eine nationale Strategie würde uns in diesen Fragen weiterbringen, denn auf das Improvisationstalent von Schulen und Lehrkräften können wir uns nicht ewig verlassen.
Drittens: Bei der Digitalisierung stehen Schulen in Deutschland vor riesigen Herausforderungen. In Korea wurde vor fast 20 Jahren die letzte Schule ans schnelle Internet angeschlossen, bei uns bremsen sich Bund, Länder und Kommunen aktuell beim Digitalpakt aus. Auf der Strecke bleiben die Chancen der Schüler, jene Kompetenzen zu erwerben, die für die zunehmend digitalisierte Lebens- und Arbeitswelt notwendig geworden sind. Lehrkräften kann der intelligente Einsatz digitaler Medien zudem dabei helfen, alle Schüler besser zu fördern und individuell zugeschnittene pädagogische Konzepte anzuwenden. Diese sollte aber weder jede Lehrkraft noch jedes Bundesland einzeln erfinden - angesichts globaler Herausforderungen wie der Digitalisierung bedarf es mindestens nationaler Lösungen.
Ob Ganztagsschule, Inklusion oder Digitalisierung: Wir brauchen mehr empirisches Handlungswissen und konkrete Wegweiser für die Zukunft unserer Schulen. Auch beim gravierenden Lehrermangel wäre ein bundesweiter Blick nötig. Bis 2025 fehlen allein an den Grundschulen 35 000 Lehrkräfte. Der Politik gelang bisher nicht, auf steigende Geburtenraten und vermehrte Einwanderung zu reagieren; nun müssen kurzfristige Lösungen her. Der Bildungsrat kann hier besser koordinieren, langfristiger planen und so einen drohenden Schweinezyklus mit einem Überangebot an Lehrern in einigen Jahren verhindern. Wenn man dem Gremium eine Chance gibt, ist diese Überraschung im Koalitionsvertrag ein Hoffnungsschimmer für die Kinder und Jugendlichen, die unabhängig von ihrer Herkunft hochwertige und gerechte Bildung verdienen.