EU in der Krise:Geht der Erste, gehen viele

Droht der Grexit?

Vor einem Kiosk mit Souvenir-Artikeln in Athen liest ein Mann Zeitung: Der Grexit muss unbedingt vermieden werden, schreibt Ex-Außenminister Joschka Fischer.

(Foto: AP)

Wer Griechenland rettet, hilft ganz Europa. Wer Griechenland aufgibt, gefährdet den Fortbestand der Europäischen Union.

Gastbeitrag von Joschka Fischer

Die Europäische Union wird seit einigen Jahren, genauer seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2009, permanent mit immer neuen Krisen konfrontiert. Diese überfordern offensichtlich ihre Kräfte - und vor allem ihre institutionellen Strukturen. Die EU vermag darauf meist nicht angemessen zu reagieren. All die Konflikte zeigen dies: die akute Zuspitzung der Griechenlandkrise; der Krieg in der Ukraine und die Konfrontation mit Russland; die aktuelle Flüchtlingskrise im Mittelmeer, die aufs Engste mit den verschiedenen Kriegen und Bürgerkriegen in Afrika sowie der sehr schweren, ja fast ausweglosen Regionalkrise im gesamten Nahen und Mittleren Osten verbunden ist, in deren Zentrum sich Syrien und der Irak befinden.

Diese offensichtliche Unfähigkeit, die ein Ergebnis nicht von "zu viel Europa", sondern gerade im Gegenteil von "zu wenig Europa" ist, hat allerdings eine Konsequenz: Sie verschärft die innere Legitimationskrise der Europäischen Union. Denn die Bürgerinnen und Bürger verlangen nach Lösungen, welche die EU offensichtlich nicht liefern kann oder will. Damit nimmt aber auch die Erosion der demokratischen Zustimmung für Europa in den Mitgliedstaaten zu.

Im schlimmsten Fall folgt auf den Grexit der Brexit

Es kann in den kommenden Monaten aber noch wesentlich härter kommen für die EU. Denn bereits heute ist absehbar, dass es innerhalb der nächsten eineinhalb Jahre zwei weitere dramatische Zuspitzungen geben wird: das britische Referendum über die weitere Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU sowie die Parlamentswahlen in Spanien im kommenden Herbst, die durchaus zu einem griechischen Ergebnis führen können. Gewiss, die Entwicklung kann auch in die entgegengesetzte Richtung gehen: Großbritannien bleibt in der EU, und Spanien bestätigt entweder den Status quo oder wählt zwar den Wechsel, dies aber moderater als in Griechenland.

Doch ist das Worst-Case-Szenario durchaus realistisch. Geht man davon aus, dann wird folgende bedrohliche Aussicht für die Zukunft der EU immer wahrscheinlicher: zuerst der Grexit (also das Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro), dann ein Wahlergebnis in Spanien, das in die griechische Richtung geht - und schließlich der Brexit (also das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU). Damit wäre plötzlich die gesamte Existenz der EU sehr ernsthaft bedroht. Denn sollte dieser schlimmste Fall von Ereignissen eintreten, so wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einem sich daran anschließenden Erdrutsch zu rechnen: inklusive weiterer Austritte aus der EU.

Es muss nicht, aber es kann so kommen!

Sechzig Jahre erfolgreiche europäische Integrationsgeschichte könnte dadurch infrage gestellt werden, das gesamte europäische Projekt könnte zerfallen. Denn in den meisten Mitgliedstaaten würden alle euroskeptischen und nationalistischen Kräfte den Austritt ihres Landes aus der EU oder gar deren Zerstörung ins Zentrum der jeweiligen nationalen Wahlen rücken - und dies mit wachsender Aussicht auf Erfolg.

Wie gesagt, so muss es nicht kommen; aber aus heutiger Sicht erscheint es durchaus realistisch anzunehmen, dass es so kommen kann! Diese Verbindung von Grexit und Brexit und ihre fatalen Auswirkungen auf die Stabilität nicht nur der Euro-Gruppe, sondern der gesamten EU-Konstruktion, ist wohl die größte Gefahr, die Europa gegenwärtig droht.

Griechenland braucht Geld und Reformen, und zwar sehr schnell

Diese innere Krise Europas entwickelt sich zudem in einem gefährlichen, instabilen geopolitischen Umfeld. Mag zwar sein, dass dies die innere Kohärenz der EU-Mitgliedstaaten befördern kann - es muss aber keineswegs dazu kommen. Zumal gerade Russland versucht, eine aktive Politik der Spaltung der EU zu betreiben, indem es mit einer erklärten antieuropäischen und antiwestlichen Strategie nationalistische und euroskeptische Kräfte im Innern Europas zu sammeln und zu stärken versucht.

Um solch ein hoch gefährliches Szenario für die Existenz der Europäischen Union zu verhindern, bedarf es zuerst und vor allem einer strategischen Lösung der Griechenlandkrise. Griechenland braucht Geld und Reformen, und zwar sehr schnell und auf jeden Fall sowohl innerhalb der Euro-Zone als auch innerhalb der EU.

Einen gescheiterten Staat Griechenland, der ja bis auf Weiteres Mitglied der EU bliebe, können sich weder Athen noch Brüssel erlauben, und auch Berlin nicht. Das anhaltende Pokern zwischen Athen und den Geldgebern geht zu Lasten aller Beteiligten und vor allem Europas. Es kann am Ende doch nur in einem erneuten "Bail-out", einer Rettung Griechenlands durch die Euro-Zone, enden, wenn Europa nicht in eine Katastrophe gestürzt werden soll.

Die EU sollte auch gegenüber London Flexibilität zeigen

Die Verhinderung des Grexits muss aus europäischer Sicht (und nicht nur aus griechischer) eindeutig prioritär sein. Sollte er tatsächlich abgewehrt werden, so würde sich die Herausforderung durch einen Brexit schon wesentlich entspannter darstellen. Denn dort sind zwischen Brüssel und London die Risiken wesentlich verteilter; sie sind sogar größer für den britischen Premierminister, David Cameron. Denn ein Brexit würde mit hoher Wahrscheinlichkeit von Schottland nicht mitvollzogen werden - und so könnte dieser doch noch zu jenem Ende des Vereinigten Königreichs führen, das im vergangenen Jahr noch von der Mehrheit der Schotten abgelehnt wurde und was ebenfalls alles andere als wünschenswert wäre.

Dennoch sollte die EU auch in den Verhandlungen mit London, die dem Referendum vorausgehen, Flexibilität zeigen. Dies ist so lange möglich, wie es nicht um die Grundsätze der Europäischen Union geht, sondern vor allem um die Frage weiterer Ausnahmeregeln für Großbritannien und um die Ausgestaltung der zukünftigen Beziehungen zwischen einer immer weiter zusammenwachsenden EU (und hier vor allem der Währungsunion) sowie dem Vereinigten Königreich.

Gelänge es darüber hinaus noch, die Ge- und Entschlossenheit Europas in der Ukrainekrise gegenüber einem expansiven Russland zu verteidigen oder sogar noch zu verstärken, dann hätte die EU fürs Erste eine ernsthafte Existenzkrise abgewehrt und ginge gestärkt aus dieser Herausforderung hervor. Wenn aber nicht, dann wird das gerade Gegenteil eintreten - was sich Europa nun wirklich ersparen sollte.

Joschka Fischer

Joschka Fischer (Die Grünen), 67, von 1998 bis 2005 Vizekanzler und Bundesaußenminister. Heute ist er Chef einer Unternehmensberatung.

(Foto: dpa)
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