Außenansicht:Gedenken ist nicht genug

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Stefanie Schüler-Springorum, 55, ist Historikerin und leitet das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. (Foto: Kirsten Nijhoff)

In Deutschland nimmt das Wissen über den Holocaust und so die Empathiefähigkeit ab.

Von Stefanie Schüler-Springorum

Vor 30 Jahren, zum 50. Jahrestag der damals noch "Kristallnacht" genannten Ereignisse, hielt der Bundestagspräsident Philipp Jenninger jene berühmte Rede, die ihn das Amt kostete. Sein Versuch, die Selbstrechtfertigungsnarrative der deutschen Täter und Zuschauer wiederzugeben, wurde als missglückt und dem Anlass nicht würdig empfunden. Aus heutiger Perspektive jedoch nötigt Jenningers sprachlich vielleicht unbeholfene Ansprache durchaus Respekt ab. Denn in den Gedenkreden der folgenden Jahrzehnte hat sich niemand mehr so nah, so dicht an die 1930er-Jahre herangetraut, um, in den Worten von Monika Richarz, "das Abrücken der Mehrheit von der Minderheit" zu beschreiben.

Und für das Jahr 1938 greift selbst diese Formulierung viel zu kurz, wie die Forschung der vergangenen Jahre überdeutlich gemacht hat. Ging es doch vielerorts um die freudige, ja lustvolle Beteiligung an der Demütigung, Ausbeutung und Vertreibung der eigenen Nachbarn. Zu Recht hat man daher das, was im November 1938 über die deutschen Juden hereinbrach, die "Katastrophe vor der Katastrophe" genannt, eine öffentliche Gewaltorgie, wie sie in Friedenszeiten noch nie zuvor in der deutschen Geschichte verzeichnet worden war.

Wir alle kennen die Bilder der zerstörten Geschäfte und brennenden Synagogen. Die genaue Zahl der in jenen Tagen Ermordeten aber ist unbekannt, sie wird vermutlich in die Hunderte gehen. Und keine Zahlen und Fotos, lediglich einige Berichte gibt es über die Misshandlungen jüdischer Männer, Frauen und Kinder. Denn das war das fundamental Neue an dieser exzessiven Gewalt: Die Täter machten nicht einmal vor kleinen Kindern halt, die aus ihren Betten geprügelt und in die Novembernacht gejagt wurden, und auch nicht vor alten Frauen, die man die Treppe hinunterstieß, in den Bauch und gegen den Kopf trat oder mit elektrisch geladenen Stangen quälte.

Das, was als Tabubruch beschrieben wird, der nur im Krieg stattfinden könne, exzessive Gewalt gegen Frauen und Kinder, spielte sich mitten in deutschen Provinzstädten ab, und die Opfer waren keine "Fremden" oder "Feinde", sondern Vertreter des gealterten deutschen Bürgertums - oder anders ausgedrückt: Sie sahen aus wie die Eltern und Großeltern der Täter.

Insofern ist es folgerichtig, dass die Ereignisse zwischen dem 7. und 10. November 1938 hierzulande zum Symbol für den Massenmord an den europäischen Juden geworden sind, geschah er doch in Deutschland, öffentlich, an Hunderten Orten und vor den Augen von Hunderttausenden Menschen. Die Sichtbarkeit des antijüdischen Terrors war also durch dessen große Streuung immens und die örtliche Beteiligung unleugbar. Interessanterweise wurde dies - die lokale Verwurzelung - im selben Jahr wie Jenningers Rede deutlich, wenngleich eher opfer- als täterzentriert: Nie zuvor sind in beiden deutschen Staaten so viele Publikationen über jüdische Lokal- und Regionalgeschichte erschienen wie 1988, als in der Bundesrepublik und in der DDR an den 50. Jahrestag des Novemberpogroms erinnert wurde.

Auch im vereinten Deutschland wurde dieser Publikationsboom bislang nicht übertroffen. Stattdessen etablierte und institutionalisierte sich nicht nur die Forschung zur jüdischen Geschichte und zur Geschichte des Nationalsozialismus, sondern auch und vor allem ein breites Angebot an geschichtsvermittelnden Einrichtungen wie Gedenkstätten, Lernorte und Museen. Diese Entwicklung lag nicht nur im politischen Interesse begründet, den neuen mächtigen Staat in der Mitte Europas als zutiefst geläutert darzustellen; sondern sie wurde auch getragen vom Engagement einer Generation, deren Angehörige sich als meist sehr junge Menschen mit der NS-Vergangenheit oftmals ihrer Heimatorte beschäftigt hatte, und zwar zu einer Zeit, als dies noch keineswegs staatstragend gewesen war, sondern Ärger mit Onkeln, Großmüttern oder Schuldirektoren einbringen konnte.

Die viel gerühmte deutsche Erinnerungskultur, immer noch ein außenpolitisches Asset ersten Ranges, basiert also auf einer glücklichen historischen Fügung von politischer, finanzieller sowie biografischer Koinzidenz, die damals keineswegs selbstverständlich war und daher - dies gilt es zu beachten - in keinem der drei Bereiche notwendigerweise auf Dauer angelegt sein muss. In einem Land, in dem man sich so ausführlich und detailliert über die eigene, verbrecherische Vergangenheit informieren kann wie wohl nirgendwo sonst, in dem es auch außerschulische Angebote für alle gesellschaftlichen Gruppen, für Kurz- oder Langzeit-Interessierte, in mehreren Sprachen und vermittelt durch verschiedenste pädagogische Konzepte gibt, in diesem Land, das belegen neuere Studien, nimmt das Wissen über den Holocaust ab und nicht zu. Und dies einmal mehr, wenn es über die Täterschaft in der eigenen Familie geht. Hat also das Gedenken das Wissen ersetzt?

Aber wie kann es dann sein, dass in einem Land, das diese Toten nicht nur am 9. November, sondern auch am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, in vielfältigen staatlichen Akten und Veranstaltungen würdigt, niemand auf die Straße ging, um in Mahnwachen der Opfer des größten antisemitischen Anschlags in den USA zu gedenken, bei dem am 27. Oktober dieses Jahres in Pittsburgh elf Gläubige in einer Synagoge erschossen wurden?

Nun mag dies auch mit einer gewissen Gewöhnung an terroristische Attentate zu tun haben oder mit der Tatsache, dass es sich beim Täter um einen rechtsradikalen weißen Amerikaner handelt, oder dass alles doch sehr weit entfernt und in einem Land stattfand, in dem die Waffengesetze solche Amokläufe ohnehin fast monatlich hervorbringen. Aber die Gründe dürften tiefer liegen: Die deutsche Erinnerungskultur in all ihrer so löblichen, vielfältigen Gestalt droht auch ein wenig zum Opfer ihres Erfolgs zu werden und steht nun, 30 Jahre nach dem Aufbruch, den der Skandal um Jenninger und der lokalhistorische Boom von 1988 gleichermaßen symbolisieren, vielleicht vor einer ganz anderen Herausforderung. Denn in dem Maße, in dem "Vergangenheitsbewältigung" zum starren, normativen Fundament des staatlichen Selbstverständnisses gehört, scheint die Gefahr zu bestehen, dass das bürgerschaftliche Engagement erlahmt, die Selbstgefälligkeit zu- und die Empathiefähigkeit abnimmt. Dies aber, das zeigt der Tabubruch, der vor 80 Jahren vor unseren Haustüren stattfand, dies zeigt der Gewaltausbruch gegen die eigenen Nachbarn, können wir uns nicht leisten, zu keiner Zeit.

© SZ vom 07.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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