Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Für ein anderes Grundgesetz

Lesezeit: 4 min

"Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe" sollten in der Verfassung verankert werden.

Von Farhad Dilmaghani

Noch vor kurzem forderte Bundeskanzlerin Merkel im Deutschen Bundestag angesichts der hohen Flüchtlingszahlen: "Wir sollten aus den Erfahrungen der sechziger Jahre, als wir Gastarbeiter zu uns gerufen haben, lernen und von Anfang an der Integration allerhöchste Priorität einräumen. Wenn wir es gut machen, dann bringt es mehr Chancen als Risiken." Doch statt ein langfristiges Integrationskonzept auf den Weg zu bringen, ist in Deutschland mittlerweile die X-te Leitkulturdebatte entbrannt mit den ewig gleichen teils unerträglich hetzerischen Argumenten.

Traurig, denn die letzten Wochen und Monate haben auch gezeigt, dass ein gesellschaftlicher Aufbruch in vollem Gange ist. Es gibt eine sehr hohe Akzeptanz bei Bürgerinnen und Bürger für Flüchtlinge und ein plurales Deutschland ebenso wie Widerstand. Aber weite Teile der Zivilgesellschaft leben heute schon das, was die Bundesintegrationsbeauftragte Aydan Özoğuz für die Einwanderungsgesellschaft einfordert, Integrationspolitik als "Teilhabepolitik für alle" zu begreifen. Es ist daher der richtige Zeitpunkt, die sogenannte Leitkulturdebatte endlich einen entscheidenden Schritt voranzubringen und zeitgemäß zu führen. Ein neues Selbstverständnis von Deutschland als Einwanderungsgesellschaft sollte im Grundgesetz verankert werden. Es braucht einen neuen verfassungsrechtlichen Kompass für die Einwanderungsgesellschaft, der das überparteilich geteilte Diktum der Bundeskanzlerin "Integration hat allerhöchste Priorität" aufgreift und die staatlichen Institutionen langfristig verpflichtet. Einen neuen Art. 20b im Grundgesetz: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland. Sie fördert daher die gleichberechtigte Teilhabe und Integration." Er bezieht sich auf alle rechtmäßig in Deutschland lebenden Menschen und könnte eine überfällige Zeitenwende in der Integrationspolitik einläuten.

Der Aufnahme neuer Staatsziele im Grundgesetz wird oftmals mit Zweifeln begegnet. Das war auch der Fall als im Jahre 1994 das Staatsziel "Umweltschutz" ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Daraus lässt sich lernen, dass ein politisches Anliegen in den Rang eines "Staatsziels" erhoben werden kann, wenn es auf eine Entwicklung Bezug nimmt, die die Gesellschaft grundlegend verändert.

So reagiert ein mögliches Staatsziel "Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe" unmittelbar auf die Entwicklung des ethnisch relativ homogenen Nachkriegsdeutschlands hin zur jetzigen Einwanderungsgesellschaft. Mittlerweile hat ein Fünftel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, ein Drittel aller Familien haben migrationsgeschichtliche Bezüge. Eine neue Generation "DeutschPlus" wächst heran, die sich in Deutschland beheimatet fühlt und ihre eigenen Wurzeln wertschätzt. Was würde sich durch ein neues Staatsziel konkret ändern?

Erstens, ein positives Bekenntnis zu "Vielfalt und gleichberechtigter Teilhabe" im Grundgesetz schafft einen klaren normativen Kompass für die Einwanderungsgesellschaft. Deutschland würde sich unwiderruflich festlegen. In einer Einwanderungsgesellschaft sollten "Einwanderer" und "Einheimische" nicht gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr müssen beide Seiten für die Gestaltung ihrer Zukunft Verantwortung übernehmen. So kann das weiter befördert werden, was Bundespräsident Gauck als "neues deutsches Wir" bezeichnet.

Zweitens, lässt sich eine kohärente moderne Integrationspolitik formulieren, die "Integration" unumstößlich als Prozess wechselseitig aufeinander bezogener Integrationsleistungen von Individuum und Gesellschaft ansieht. Jahrzehntelang war der Ansatzpunkt deutscher Integrationspolitik die Feststellung von "Integrationsdefiziten" auf Seiten der Einwanderer, die sie durch Integrationsleistungen zu kompensieren hatten. Demgegenüber blieben die Integrationsleistungen der "Aufnahmegesellschaft" meist im Unklaren. Eine Integrationspolitik, die sich auf "Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe" festlegt, würde zweierlei bewirken: bestehende gesetzliche Regelungen müssten kritisch hinterfragt werden, ob sie dem Staatsziel entgegenstehen. Neue Gesetze müssten sich nunmehr daran messen lassen.

Diesen Effekt von Staatszielen bezeichnet der Berliner Verfassungsrechtler Prof. Dr. Michael Kloepfer als "Verschlechterungshindernis". Staatsziele verpflichten die drei Staatsgewalten, ihnen zu möglichst großer Wirkung zu verhelfen. Aufgrund ihres verfassungsrechtlichen Rangs könnten dem Staatsziel zuwider laufende Bestimmungen nicht mehr durch politische Erwägungen, sondern nur durch ein anderes Rechtsgut von Verfassungsrang gerechtfertigt werden. Das neue Staatsziel würde dafür sorgen, dass die bislang eher vorsichtig verfolgte Politik der interkulturellen Öffnung staatlicher Institutionen und Dienstleistungen zu forcieren wäre. Dies hätte zugleich eine Signalwirkung für die gesamte Gesellschaft. Hierdurch würden die Strukturen der Bundesrepublik Deutschland fairer und durchlässiger für Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, was erstens dazu führen würde, dass die staatlichen Institutionen vielfältiger besetzt wären und hierdurch an interkultureller Kompetenz gewönnen. Zweitens würden sie die Gesellschaft möglichst repräsentativ abbilden - eine zutiefst demokratische Forderung, die auch der gesamten Gesellschaft Stabilität verleihen kann.

Drittens, die Aufnahme des Staatsziels sowie ein hieran ausgerichtetes Staatshandeln würden schließlich auch zu einer Verbesserung der individuellen Position der Menschen mit Migrationshintergrund beitragen. Hieran besteht nicht nur ein individuelles Interesse im Sinne eines Rechts auf soziale Teilhabe, sondern auch ein gesamtgesellschaftliches, da auf diesem Wege sozialen Desintegrationsprozessen besser begegnet werden kann. Dies setzt auch voraus, dass jegliche Form von Diskriminierung und Rassismus viel entschiedener bekämpft wird. Brennende Flüchtlingsheime sind nur das sichtbarste Bild von grassierenden Vorstellungen über Ungleichwertigkeit und Zugehörigkeit zu Deutschland.

Darüber hinaus ist die hier lebende, alternde Gesellschaft auf qualifizierte und nachhaltige Einwanderung angewiesen. Tatsächlich wäre das Bruttoinlandsprodukt 2013 nach Berechnungen der Volkswirte der Deutschen Bank ohne Zuwanderung leicht geschrumpft, anstatt um 0,4% zu wachsen. Aber gerade Hochqualifizierte hält es am wenigsten in Deutschland. Von ihnen sind 45% unentschlossen, ob sie in Deutschland bleiben möchten. Zugespitzt gesagt, erweist sich jeder Versuch einer anreizbasierten und nachhaltigen Zuwanderungssteuerung "von außen" als weniger erfolgsversprechend, solange die Voraussetzungen "von innen" nicht substantiell verbessert werden. Die vielbeschworene Willkommenskultur würde perspektivisch überflüssig, weil gelebte Vielfalt sich zur Norm entwickelt.

Ein neues Staatsziel "Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe" würde also eine konkrete und unumkehrbare Standortbestimmung vornehmen, wie ernst wir es mit der Einwanderungsgesellschaft meinen. Die Zeit ist reif für eine Einwanderungsverfassung. Sie wäre auch für Europa vorbildhaft gerade vor dem Hintergrund epochaler Veränderungen wie wir sie zurzeit erleben. Die Umsetzung wird Gesellschaft, Staat und Wirtschaft viel abverlangen. Aber es lohnt sich, die Vision des "neuen deutschen Wir" zu verwirklichen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2688091
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 13.10.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.