Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Europa braucht eine eigene Verteidigungsstrategie

Europa ist eingeklemmt zwischen dem künftigen US-Präsidenten Trump und Russlands Staatschef Putin. Jetzt muss die EU handeln und kann nicht länger eine reine "Soft Power" bleiben.

Gastbeitrag von Joschka Fischer

Dieses Jahr wird für Europa wohl ein entscheidendes Jahr werden: Nach dem Schock des Brexit und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten werden Neuwahlen in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und vielleicht auch in Italien unter anderem darüber entscheiden, ob die EU zusammenhalten oder ob die neonationalistische Welle in nahezu allen Mitgliedstaaten zum Zerfall der EU führen wird.

In diesem Jahr wird es ernst werden mit der praktischen Ausgestaltung des Brexit und damit der Beantwortung der Frage, wie sich das zukünftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien gestalten wird. Und noch im Januar wird Donald Trump das Amt als 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika antreten. Für Europa kann dieses Datum eine dramatische Zäsur bedeuten. Wenn man die bisherigen Äußerungen des gewählten Präsidenten Trump zu Europa zur Grundlage für seine zukünftige Politik heranzieht, dann darf sich die EU auf tief gehende Erschütterungen einstellen. Trump hält nichts von der europäischen Integration, dafür aber umso mehr von dem in nahezu allen Mitgliedstaaten grassierenden neuen Nationalismus. Diese Haltung teilt er ganz offensichtlich mit seinem russischen Gegenüber.

Wladimir Putin versucht schon seit Längerem, die EU durch die Förderung nationalistischer Kräfte und Bewegungen in deren Mitgliedstaaten zu destabilisieren, und wenn dieser Trend in Zukunft auch von Washington unterstützt wird, dann darf sich die EU - eingeklemmt zwischen russischen Trollen und Breitbart News - auf einiges gefasst machen.

Noch sehr viele weiterreichende Konsequenzen für Europa und damit auch die EU wird allerdings die Ankündigung des neuen amerikanischen Präsidenten haben, die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa überprüfen und das Verhältnis der USA zu Russland auf eine neue Grundlage zu stellen. Geht diese zulasten der Nato würde dies die Sicherheitslage für Europa radikal verändern. Die Europäer wären plötzlich sehr allein und das in einer Zeit, in der Russland unter Einsatz militärischer Mittel die Grenzen seines westlichen Nachbarn Ukraine infrage stellt und damit wieder die Hegemonie zumindest in Osteuropa anstrebt.

Wir werden die Antwort auf diese Frage bald wissen, aber ein großer Schaden ist bereits heute eingetreten, denn Sicherheitsgarantien sind eine komplizierte Sache. Sie bestehen zu großen Teilen aus militärischer Hardware, aber sie leben auch ganz wesentlich von Psychologie - von ihrer Glaubwürdigkeit gegenüber Freund und Feind. Leidet diese, so kann es zu falschen Reaktionen bis hin zu Krisen, ja bewaffneten Konflikten kommen. Genau hier ist aber ein Schaden bereits eingetreten, denn die Äußerungen des Kandidaten Trump haben die Glaubwürdigkeitsfrage der amerikanischen Sicherheitsgarantie aufgeworfen.

Europa wird angesichts dieser Lage gut beraten sein, das Erreichte an gemeinsamer Sicherheit in der Nato und an institutioneller, wirtschaftlicher und Rechtsintegration in der EU so weit wie möglich zu bewahren. Zugleich sollte sich die EU aber eine zweite Sicherheitsoption auf der Grundlage der Nationalstaaten eröffnen. Denn dies wird nach Lage der Dinge die auf Soft Power gegründete EU nicht können, da sie für eine solche machtpolitische Herausforderung weder vorbereitet noch konstruiert wurde. Sie ist dabei auf die beiden größten, wirtschaftlich stärksten Mitgliedstaaten angewiesen - auf Frankreich und Deutschland. Andere Länder, wie etwa Italien, Benelux, Spanien oder Polen sollten dabei nicht ausgeschlossen werden, aber Frankreich und Deutschland sind unverzichtbar.

Moskau sieht Außenpolitik als Nullsummenspiel: ich gewinne, du verlierst

Auf dem europäischen Kontinent zu leben, heißt mit Russland als Nachbarn zu leben, und Nachbarschaft muss generell auf Frieden, Kooperation und gegenseitigem Respekt gründen. Zumal wenn es sich um die Nachbarschaft mit einer Atommacht handelt. Und die Europäer werden sich in Zukunft weniger denn je Illusionen erlauben können. In Moskau wird Außenpolitik nicht als Win-Win-Spiel betrachtet (beide gewinnen), sondern als Null-Summen-Spiel (ich gewinne, du verlierst). Deshalb geht auch für ein solches Denken nationale militärische Stärke und Einflusszone immer vor kooperativer Sicherheit.

Die Schwäche des Nachbarn wird nicht als Grundlage für eine stabile Friedensarchitektur gesehen, sondern vielmehr als Einladung zum Ausdehnen der eigenen Einflusszone. Wenn Europa daher auf dem europäischen Kontinent eine dauerhafte Friedensordnung will, dann wird es vor allem ernst genommen werden müssen. Das ist gegenwärtig eindeutig nicht der Fall. Dazu wird es aber, in der Ära Trump, jenseits der amerikanischen Sicherheitsgarantie, seine eigenen Fähigkeiten wesentlich stärken müssen. Dies werden Frankreich und Deutschland nur gemeinsam leisten können. Der Zeitpunkt dafür dürfte nach der Amtseinführung Donald Trumps und nach den Wahlen im vor uns liegenden Jahr in beiden Ländern gekommen sein.

Ohne ein ernst zunehmendes Minimum an machtpolitischer Symmetrie lässt sich eine stabile Friedensordnung kaum vorstellen. Asymmetrie wird vielmehr zu Instabilität beitragen und eben nicht zum Frieden. Wenn eine solche zweite europäische Sicherheitsoption zu einer Fortdauer der amerikanischen Sicherheitsgarantie führt, umso besser. Und auch mit Großbritannien könnte sich dadurch eine Zusammenarbeit jenseits des Brexit auftun, denn die Sicherheitsinteressen des Landes werden sich dadurch nicht ändern.

Hinter vorgehaltener Hand pflegten bisweilen EU-Diplomaten zu raunen, Deutschland und Frankreich würden sich in zwei Fragen niemals einigen, nämlich in Finanz- und Militärfragen. Dazu wären die historischen und kulturellen Differenzen einfach zu groß. Wladimir Putin und Donald Trump werden, wenn es schlecht kommt, auch diesen Teil der Realität für Europa neu definieren. Betrachtet man daher die Fakten, sollte ein Kompromiss auf beiden Seiten des Rheins nicht allzu schwerfallen: Verkürzt gesagt verfügt Frankreich in strategischen und Sicherheitsfragen eindeutig über die größere Erfahrung, in Finanzfragen empfiehlt sich die Orientierung am deutschen Modell.

Die alte EU konnte sich im Schutz der amerikanischen Sicherheitsgarantie als Wirtschaftsmacht entwickeln. Fällt diese aber weg, so wird der EU nichts anderes übrig bleiben, als selbst eine ernsthafte machtpolitische Dimension zu entwickeln. Frankreich und Deutschland sind jetzt ein weiteres Mal, sechzig Jahre nach den römischen Verträgen, durch die Geschichte und ihren Verlauf gefragt, Europa zu gestalten.

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Quelle:
SZ vom 09.01.2017
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