Flüchtlingspolitik:Europa muss sich entscheiden

Joschka Fischer

Joschka Fischer kritisiert die EU wegen ihrer Flüchtlingspolitik.

(Foto: Getty Images)

Die EU ist heillos überfordert mit der Flüchtlingskrise. Durch ihre Inkompetenz gefährdet sie sich selbst.

Gastbeitrag von Joschka Fischer

Europa wurde über viele Jahrhunderte geplagt von Kriegen, Hungersnöten und Armut. Millionen von Europäer wanderten aus, getrieben durch die blanke Not. Sie zogen über den Atlantik, nach Amerika -Süd und Nord - und bis ins ferne Australien, nur um ihrer ererbten Not für sich und ihre Kinder zu entkommen. "Wirtschaftsflüchtlinge" allesamt, um diesen Begriff aus der heutigen Debatte über Einwanderung und Flüchtlinge zu verwenden. Im 20. Jahrhundert kamen als vorherrschende Fluchtursachen noch rassische Verfolgung, politische Unterdrückung und die Verheerungen von zwei Weltkriegen hinzu.

Heute ist die EU eine der reichsten Wirtschaftszonen auf dem Globus, die große Mehrheit der Europäer lebt seit Jahrzehnten friedlich in demokratischen Staaten mit garantierten Grundrechten und einer einmaligen sozialen Infrastruktur. Die Erinnerung an die fernen Zeiten der eigenen Not scheint fast ausgelöscht zu sein - und so fühlt sich Europa ganz aktuell bedroht. Nein, weniger durch Wladimir Putin und ein erneut auf seine Nachbarn aggressiv ausgreifendes Russland, sondern durch Flüchtlinge und Zuwanderer, durch die Ärmsten der Armen.

Die Flüchtlingskrise beginnt erst

Im Mittelmeer ertranken in diesem Sommer wieder Hunderte von Bootsflüchtlingen, zugleich werden in Europa die Rufe nach Abschottung, nach massenhaften Deportationen, nach dem Bau von neuen Zäunen - im 26. Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer - immer lauter. Überall in Europa reüssiert Fremdenfeindlichkeit bis hin zu offenem Rassismus; nationalistische, ja rechtsradikale Parteien feiern große Wahlerfolge.

Das reiche Europa erlebt im heißen Sommer 2015 den Beginn einer großen Flüchtlingskrise - Beginn deshalb, weil die Fluchtursachen nicht so schnell verschwinden, sondern sich eher noch verstärken werden - und scheint dadurch politisch, moralisch und administrativ völlig überfordert zu sein. Die administrative Überforderung ist besonders beschämend, da es sich bei der EU nicht nur um eine der reichsten Wirtschaftszonen der Welt handelt, sondern weil die Mehrheit ihrer Mitglieder über große und hervorragend ausgestattete Sozialbürokratien verfügt.

Diese Unfähigkeit bedeutet ein erhebliches politisches Risiko für die EU als Ganzes. Kaum jemand glaubt ernsthaft, dass die einzelnen Mitgliedstaaten dieses Problem auf Dauer werden für sich allein bewältigen können. Dies gilt noch mehr, wenn man Italien und Griechenland als die beiden besonders betroffenen Staaten an der südlichen Außengrenze der Gemeinschaft alleine lässt. Es bedarf einer gemeinsamen europäischen Anstrengung - die wird aber von vielen Mitgliedstaaten verweigert. Und damit droht sich der ohnehin schon bestehende Trend zur Entsolidarisierung und Desintegration innerhalb der EU, ausgelöst durch die Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2009, weiter zu verstärken und den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu gefährden.

Sollte sich der Ukraine-Krieg verschärfen, käme noch eine Fluchtursache hinzu

Drei Ursachen für die Fluchtwelle in Richtung Europa sind erkennbar: erstens die Wirtschaftsmisere auf dem westlichen Balkan; zweitens die Kriege und Bürgerkriege des Nahen Ostens; drittens Kriege, Bürgerkriege und eine anhaltende Wirtschaftsmisere in Afrika. Es sind also schwere Krisen in ihrer Nachbarschaft, zu deren Lösung die EU wenig beitragen kann, da sie außenpolitisch darauf nicht vorbereitet ist. Das gilt allerdings noch mehr für ihre Mitgliedstaaten, sodass ein massives Handlungs- und daraus folgend ein Legitimitätsdefizit in der Bevölkerung droht. Dieses Defizit kann ein nationalistischer und fremdenfeindlicher Populismus leicht nutzen.

Sollte sich der Krieg im Osten der Ukraine wieder verschärfen oder gar ausdehnen, so käme mit Sicherheit im Osten Europas noch eine vierte Fluchtursache hinzu. Es spricht also vieles dafür, dass die EU ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unter Einschluss ihrer Nachbarschaftspolitik erheblich verstärken und deren Instrumente wesentlich verbessern müsste, um sich wirksamer um die Fluchtursachen kümmern zu können. Leider gibt es im Augenblick keine Anzeichen dafür.

Bei Balkanflüchtlingen handelt es sich um künftige Bürger der EU

Auf die Kriege und Konflikte Afrikas, wie auch auf die Kriege und Bürgerkriege des Nahen Ostens werden die Europäer angesichts ihrer außenpolitischen Schwäche nur einen geringen Einfluss haben, den man aber gleichwohl nutzen und ausbauen sollte.

Der westliche Balkan aber ist ohne Zweifel ein Teil Europas, die Staaten dort sind entweder Beitrittskandidaten oder potenzielle Bewerber mit einer europäischen Perspektive. Warum sich die EU bisher dort nicht sehr viel stärker engagiert hat, bleibt ein Geheimnis Brüssels und der Mitgliedstaaten. Auf dem westlichen Balkan kann die EU etwas bewirken, vor allem durch die wesentlich bessere Anbindung der Infrastruktur an die industriellen Zentren der Gemeinschaft und durch eine verstärkte Modernisierung von Wirtschaft und Verwaltung. Zudem ist es absurd, dass Bürger von Beitrittskandidaten der EU in das Asylverfahren gedrängt werden, weil es für sie faktisch keine legale Einwanderungsmöglichkeit in die EU gibt.

Diskriminierung von Roma stellt einen Skandal dar

Einen Sonderfall bilden die Roma, eine gerade in den westlichen Balkanstaaten stark präsente Minderheit, die unter mannigfaltiger Diskriminierung zu leiden hat. Die Roma waren nach der Wende 1989 besonders betroffen, da sie oft einfache Jobs in der Industrie hatten, die zuerst abgewickelt wurden. So kamen viele Roma wieder in hoffnungslose Armut. Die Roma sind eine gesamteuropäische Herausforderung, da es sich bei ihnen zweifelsfrei um heutige oder künftige Bürger der EU handelt. Deren anhaltende Diskriminierung stellt einen europaweiten Skandal dar, um den sich Brüssel, gemeinsam mit den Mitglied- und Kandidatenstaaten, kümmern muss.

Die Flüchtlingskrise dieses Sommers beleuchtet noch ein sehr viel größeres Strukturproblem Europas: die Demografie. Die Europäer werden älter und weniger und brauchen deshalb dringend Zuwanderung. Zugleich wehrt sich das alte Europa eben dagegen mit Händen und Füßen, weil Zuwanderung eben auch gesellschaftliche Veränderung bedeutet.

Auf Dauer wird die Politik der Bevölkerung erklären müssen, dass es beides - hohe Wettbewerbsfähigkeit und soziale Sicherheit einerseits und keine Zuwanderung andererseits - nicht geben kann, sondern dass es sich hier um eine historische Entweder-oder-Frage handelt, die entschieden werden muss. Um es an einem Beispiel zu zeigen: Was wäre die Schweizer Fußballnationalmannschaft ohne die Kinder von Migranten. Eben!

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