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Außenansicht: Stephan Lehnstaedt, 36, ist Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin. 2010 - 2016 war er Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts Warschau.

Stephan Lehnstaedt, 36, ist Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin. 2010 - 2016 war er Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts Warschau.

(Foto: privat)

Geschichtspolitik ist in Polen ein zentrales Thema. Deutsche sollten sich dabei vor Besserwisserei hüten.

Von Stephan Lehnstaedt

Vergangenheit hat in Polen einen viel höheren Stellenwert als in Deutschland. Das liegt vor allem an der staatlichen Geschichtspolitik. Sie wird in Polen, im Gegensatz zu Deutschland, aktiv betrieben und ist auch für die Außenpolitik wichtig. Auch deshalb reagiert man höchst sensibel auf deutsche Kommentare zur Geschichte, die oft als Besserwisserei empfunden werden.

Der nationalen Historie kommt in Polen eine wichtige Rolle für die Gegenwart zu: Aus ihr kann man, so die Überzeugung, Werte lernen, die auch im 21. Jahrhundert etwas bedeuten. Dazu zählen Patriotismus und Freiheitsliebe, die demnach bis zum Sieg 1410 über die Deutschritter bei Tannenberg zurückreichen. Im 19. Jahrhundert ging es gegen die drei Teilungsmächte Russland, Österreich-Ungarn und Preußen, später gegen das nationalsozialistische Deutschland und 1989/90 schließlich gegen den Kommunismus.

Dass letzterer als Fremdherrschaft empfunden wird, mag überraschen. Aber Polen sieht sich hier als Opfer. Deshalb war ein wesentlicher Motor für die Solidarność-Bewegung in den 1980ern die Auseinandersetzung um die Geschichte: Der Hitler-Stalin-Pakt sollte endlich als solcher benannt, die Warschauer Aufständischen von 1944 - sie hatten gegen die Deutschen gekämpft, waren aber von Stalin verraten worden - gewürdigt und die Opfer des Sozialismus rehabilitiert werden.

Nach 1990 ließ sich all das endlich realisieren. "Wahre" Geschichte wurde ein zentrales Element neuen, nationalen Selbstverständnisses. Sie bot vielleicht keinen Anlass zur Freude, war aber Grund für Stolz gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten. Die Regierungen leiteten allerdings unterschiedliche geschichtspolitische Prioritäten aus der Vergangenheit ab. Die liberale "Bürgerplattform" um Donald Tusk wollte zuletzt Vergangenheit im internationalen Kontext im Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig präsentieren und so einem westlichen Geschichtsverständnis folgen. Jarosław Kaczyńskis "Recht und Gerechtigkeit" reklamiert nun polnisch-katholischen Heldenmut und Opferbereitschaft für sich und möchte sie ausschließlich aus der Binnenperspektive zeigen.

Diese Gegensätze sind ein wesentlicher Teil der innenpolitischen Auseinandersetzung. Aber auch nach außen hin haben sie hohe Relevanz. So unternimmt Warschau seit einigen Jahren Anstrengungen, um die polnischen Retter von verfolgten Juden zu ehren. Das ist zugleich ein Weckruf an den Westen: In keinem Land gab es so viele Judenretter wie in Polen. Und mit Ausnahme der Sowjetunion nirgendwo so viele nichtjüdische Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus. Die polnische Regierung leitet aus diesen Tatsachen Selbstbewusstsein ab und begründet damit politische Ansprüche in der Gegenwart.

Eine Geschichtspolitik, die doch noch Sieger produzieren will

Umso ärgerlicher ist es für Warschau, westlich der Oder auf weitgehende Ignoranz zu stoßen, denn in Deutschland und Europa zentriert sich das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg auf den Holocaust. Die eigenen Helden und Opfer treten damit in Konkurrenz zu "fremden" Juden - selbst wenn drei Millionen polnische Juden im Holocaust ermordet wurden. In dieser Lesart finden weder das eigene Leid noch der Beitrag für die Freiheit des Westens Anerkennung. Und tatsächlich sind sie in Deutschland kaum bekannt. Stattdessen dominieren Gedankenlosigkeit und Unwissen, die sich nicht selten in der leichtfertigen Formulierung von den "polnischen Konzentrationslagern" äußern. Wer die Macht von Sprache kennt, kann dergleichen nicht als unwichtig abtun.

Dazu kommt eine verbreitete Überheblichkeit deutscher Politiker, die ihr Unverständnis über diese Geschichtspolitik äußern und Selbstkritik empfehlen. Nationalismus in glorifizierender Form ist ihnen fremd, kämpfende Kinder im Warschauer Aufstand sind für sie keine Vorbilder, bei Judenrettern fragen sie nach polnischer Kollaboration im Holocaust oder nach polnischem Antisemitismus. Auf diese Punkte gehen die heutigen Museen tatsächlich wenig ein und klammern sie teils bewusst aus.

In Makowa im Karpatenvorland hat vor Kurzem eine Gedenkstätte eröffnet, das der Familie Ulma gewidmet ist. Sie versteckte mehrere Juden in ihrem Haus, wurde verraten und von den Deutschen erschossen. Das Museum berichtet nicht davon, dass andere Polen Juden erpressten und an die Besatzer übergaben. Hier könnte Selbstbetrachtung instruktiv sein: Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin zeigt zwar, wie sehr Hitler verehrt wurde, aber vor allem zeigt sie deutsche Helden. Täter des Holocaust kommen dort nicht vor - ohne dass sich jemand darüber beschweren würde. Es steht den Nachfahren der Mörder selten gut an, anderen Ländern Ratschläge zum Umgang mit dem Genozid an den Juden zu geben.

Für Anstoß sorgen in Polen aber nicht nur Ignoranz und Besserwisserei, sondern auch der stereotype Umgang mit polnischer Geschichte, so sie denn überhaupt angesprochen wird. Als 2013 im ZDF der Mehrteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" lief, gab es darin Szenen mit Angehörigen des polnischen Untergrunds, die als hinterwäldlerische, primitive Antisemiten gezeigt wurden. Das ist zwar ein kleiner Teil des höchst komplexen Bildes von Widerstand, aber vor allem ein Klischee, das viele Polen alarmiert. Jenseits der Frage, wie weit Fiktion gehen darf, vermutete man jenseits der Oder eine Relativierung der deutschen Schuld. Gerade so, wie in Polen Geschichtspolitik zentral gesteuert wird, unterstellte man dem ZDF Handeln im staatlichen Auftrag, mithin also einen offiziellen Angriff auf die eigene Ehre.

Der große polnische Historiker und Politiker Bronisław Geremek sprach 2002 im Bundestag davon, dass Geschichtsschreibung keine Sieger produzieren solle. Doch genau in diesem Sinne wird in Polen momentan innenpolitisch gehandelt und Vergangenheit instrumentalisiert: Beispielsweise soll in Danzig das Museum für den Zweiten Weltkrieg geschlossen und ausschließlich national ausgerichtet werden - eine Kampfansage an Pluralismus und vielfältige historische Deutungen mit dem Ziel, dem politischen Gegner eine Niederlage beizubringen. Polen hat natürlich das Recht auf eine eigene Geschichtspolitik, aber verstehen und Verständnis bedeutet nicht, alle Initiativen gutzuheißen und keine Kritik zu üben. Doch deutscherseits könnte manchmal mehr Respekt nicht schaden. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein in einem Land, das sich Nazi-Vergleiche empört verbittet. Noch wichtiger wäre, unser Nachbarland besser zu kennen und damit ernst zu nehmen. Nicht zuletzt, weil auch die deutsche Geschichte geografisch weit nach Osten reicht.

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