Außenansicht:Eine Frage der Menschenwürde

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Die neue Bundesregierung sollte den Familiennachzug für Flüchtlinge wieder erleichtern.

Von Nils Muižnieks

Die Familie ist wesentlicher Bestandteil unseres Lebens. Aus diesem Grund wird sie auch durch nationale und internationale Rechte besonders geschützt. Für Menschen, die von ihren Familien getrennt sind, weil sie aus ihren Heimatländern fliehen mussten und im Ausland Schutz gesucht haben, wird die Zusammenführung mit den Verwandten oft zum dringendsten Bedürfnis.

Internationale Vereinbarungen verpflichten alle Staaten, das Familienleben zu schützen

Zunehmend verwehren europäische Länder jedoch geflüchteten Menschen den Familiennachzug, obwohl dies den internationalen Menschenrechtsstandards widersprechen könnte. Die in Deutschland geführte Debatte über die weitere Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär schutzberechtigte Flüchtlinge macht dies Problem deutlich. Subsidiär Schutzberechtigten wird Schutz gewährt, weil sie in ihren Herkunftsländern gefährdet sind, zum Tode verurteilt oder gefoltert zu werden. Trotzdem erhalten sie oft einen unsichereren und kürzer befristeten Schutzstatus als jene Flüchtlinge, die unter der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurden.

Im März 2016 hat die Bundesrepublik Deutschland eine zweijährige Regelung als Notfallmaßnahme eingeführt, welche subsidiär Schutzberechtigte darin hindert, den Familiennachzug zu beantragen, ausgenommen in einigen schwerwiegenden Härtefällen.

Obwohl die Situation heute viel überschaubarer zu sein scheint als damals, sind einige deutsche Politiker derzeit entschlossen, die Aussetzung des Familiennachzugs zu verlängern. Damit würde Deutschland der Politik anderer europäischer Länder folgen. Österreich, Dänemark und die Schweiz genehmigen einen Familiennachzug für Personen mit subsidiärem Schutzstatus derzeit erst nach Ablauf von drei Jahren, in Schweden wurde das Recht auf Familiennachzug sogar bis zum Jahr 2019 ausgesetzt.

Solche Maßnahmen verletzen jedoch internationale Menschenrechtsverpflichtungen und schaden letztlich der deutschen Gesellschaft mehr, als dass sie ihr nutzen. Der Schutz der Familie ist im Grundgesetz verankert. Dort heißt es im Artikel 6 ausdrücklich: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung." Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte legt fest, dass "die Familie eine natürliche Grundeinheit der Gesellschaft ist und daher Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat hat". Ebenso verpflichtet der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte alle Staaten dazu, das Familienleben zu schützen. Darüber hinaus verlangt die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von allen Staaten, die von einem Kind oder seinen Eltern gestellten Anträge auf Familiennachzug "wohlwollend, human und beschleunigt" zu bearbeiten und das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen.

Das Recht auf Familienleben wird auch von der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt erklärt, dass Menschen mit Anspruch auf internationalen Schutz ein Recht auf Nachzug ihrer Familien durch flexible, schnelle und effektive Verfahren haben. Des Weiteren müssen Staaten aufgrund der Europäischen Sozialcharta den spezifischen Bedürfnissen von Schutzsuchenden gerecht werden. Sie sollten es auch vermeiden, dem Familiennachzug unverhältnismäßige Hindernisse in den Weg zu stellen.

Darüber hinaus könnten Unterscheidungen zwischen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten das in der Europäischen Menschenrechtskonvention und im EU-Recht enthaltene Diskriminierungsverbot verletzen.

Wenn die Familie fehlt, integrieren sich Kinder schwerer

Seit 2016 scheinen deutsche Behörden willkürlich unterschiedliche Schutzniveaus zu gewähren, obwohl die Schutzsuchenden tatsächlich die gleichen Bedürfnisse haben wie die unter der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannten Flüchtlinge. Obwohl sich die Sicherheitslage in Syrien beispielsweise in den vergangenen Jahren nicht merklich verbessert hat, ist seit der Aussetzung des Familiennachzugs auch der Anteil der Syrer, die in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt werden, dramatisch gesunken: Wurden im Jahr 2015 noch 95,8 Prozent der Antragstellenden als Flüchtlinge anerkannt, so waren es 2016 nur noch 56,4 Prozent. In derselben Zeit jedoch stieg die Zahl der Syrer, welchen statt des Flüchtlingsstatus' subsidiärer Schutz gewährt wurde, von 0,1 Prozent auf mehr als 41,2 Prozent. Die künftige deutsche Bundesregierung sollte dringend berücksichtigen, wie kontraproduktiv die Aussetzung des Familiennachzugs für die Förderung der Integration, die Rettung von Menschenleben und die Zerschlagung von Schlepperorganisationen ist.

Der fehlende Familiennachzug erschwert eine erfolgreiche Integration von Ausländern in die Gesellschaft des Aufnahmelandes erheblich. Die permanente Angst wegen des Schicksals der zurückgelassenen Familienmitglieder behindert das Erlernen der Sprache, die Suche nach einem Arbeitsplatz oder die aktive Teilnahme an der Gesellschaft. Kinder, die von ihren Eltern getrennt sind, leiden oft an vermehrtem Stress oder anderen gesundheitlichen Störungen. Dies beeinflusst insbesondere die Leistungsfähigkeit dieser Kinder im Bildungssystem auf negative Art und Weise. Oftmals fehlen diesen Kindern dann die notwendigen sozialen und beruflichen Kompetenzen, um sich künftig vollständig in die Gesellschaft zu integrieren.

Hinzu kommt, dass Menschen, denen den Familiennachzug verwehrt wird, häufig lebensgefährliche Routen wählen, um doch nach Europa zu gelangen und mit ihrer Familie wiedervereint zu werden. Dies führt oftmals zu Tragödien und bereichert darüber hinaus kriminelle Netzwerke, wie etwa Schlepperorganisationen.

Die Aufnahme von Flüchtlingen stellt zweifelsohne für die aufnehmende Gesellschaft eine komplexe Aufgabe dar, jedoch darf die Antwort auf die Flüchtlingskrise nicht Verstoß gegen internationale Menschenrechtsstandards sein. Statt die Aussetzung des Rechts auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte zu verlängern, sollte die neue Bundesregierung die Einschränkungen, die 2016 erlassen wurden, aufheben und stattdessen flexible und schnelle Familienzusammenführungsverfahren gewährleisten.

Es handelt sich hier sowohl um eine Frage der Rechtmäßigkeit, als auch des langfristigen Handelns und der Menschenwürde.

© SZ vom 24.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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