Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Ein Akt des Widerstands

Die Diskussion über eine angebliche Passivität der Juden im Holocaust, die gerade in Israel mit viel Leidenschaft geführt wurde, ist absurd. Das zeigt die Geschichte des Aufstands in Treblinka. Niemand außer den Juden selbst hat für Juden die Waffen erhoben.

Von Stephan Lehnstaedt

Fast 900 000 Tote. Nicht einmal 100 Überlebende. Das ist die Bilanz des Vernichtungslagers Treblinka, in dem die Deutschen zwischen Sommer 1942 und Herbst 1943 Juden aus Polen ermordeten. Dort war nur die Gaskammer ein gemauertes Gebäude, damit das Lager später schnell wieder abgebaut und sämtliche Spuren verwischt werden konnten. Die Juden erstickten in den Abgasen eines Motors, und wenig mehr als 100 Aufseher töteten durchschnittlich 2000 Menschen am Tag. Der Massenmord war ebenso simpel wie brutal effizient: Wer als Jude das Lager betrat, verließ es nicht mehr lebend.

So war es bis zu jenem 2. August 1943, als sich die als Arbeitssklaven bisher verschonten Häftlinge gegen ihre Mörder erhoben. Es war gelungen, ein paar Äxte, Messer und vor allem etwas von dem Geld, das die Deutschen den Ankommenden raubten, beiseite zu schaffen - letzteres war für die Flucht unerlässlich. Als endlich der große Tag gekommen war, befanden sich einige Wächter auf Heimaturlaub und andere waren beim Baden, wieder andere aber schöpften Verdacht. Es musste also schnell gehandelt und improvisiert werden.

Die Aufständischen entwendeten aus der Waffenkammer einige Gewehre. Und wichtiger noch, sie setzten das Lager in Brand. Aber die Wächter schossen, sodass die Juden im Kugelhagel durch das Haupttor fliehen mussten. Von den etwa 800 Insassen erreichten nur 250 den rettenden Wald. Keiner der SS-Männer starb, lediglich zwei ihrer "fremdvölkischen" Hilfskräfte, die sich aus kriegsgefangenen Rotarmisten rekrutierten, kamen um. Das Feuer verschlang einen Großteil der Holzbauten und der Tarnung des Lagers, allerdings blieb die Gaskammer intakt. Die Schäden waren letztlich schnell zu beheben. Zwei Wochen später ermordeten die Deutschen die nächsten Juden in Treblinka.

Ein gescheiterter Aufstand also? Oder ein wichtiges Symbol dafür, dass die Juden nicht "wie Lämmer zur Schlachtbank" gingen?

Bei näherer Betrachtung überzeugt keine der beiden Deutungen. Sie implizieren, dass die Häftlinge ein höheres Ziel hatten, ein Geschichtsbewusstsein. Tatsächlich ging es ihnen ums Überleben. Die Diskussion über eine angebliche Passivität der Juden im Holocaust, die gerade in Israel mit viel Leidenschaft geführt wurde, ist ohnehin reichlich absurd: Um überleben zu können, war stets aktives Handeln notwendig. Die Juden ließen sich nicht passiv hinmorden. Sie widersetzten sich ständig aufs Neue der deutschen Vernichtungspolitik. Weiterleben war für sich genommen schon ein Akt des Widerstands. In den Schrecken des Holocaust war es ein tagtägliches Bravourstück.

Die Frauen und Männer in Treblinka hatten keinerlei Unterstützung von außen und nicht einmal militärische Kenntnisse, die beim Aufstand im Vernichtungslager Sobibor am 14. Oktober 1943 Alexander Petscherski mitbrachte, der zuvor Leutnant der Roten Armee gewesen war. Und anders als im Warschauer Ghetto, wo es im April 1943 zu echten Gefechten mit den Deutschen kam, wollten die Insassen von Treblinka auch kein Zeichen für die Nachwelt setzen.

All das wertet den Aufstand nicht ab. Ganz im Gegenteil, er zeigt, was selbst in der Hölle eines Vernichtungslagers möglich war: Überlebenswillen und Handlungsmöglichkeiten ganz gewöhnlicher Menschen. Und er führt das moralische Dilemma des Holocaust vor Augen, das für alle Nichtjuden gilt: Was haben sie damals getan? Wenn ausgemergelte, unbewaffnete und unterdrückte Insassen von Treblinka gegen den Genozid kämpfen konnten, warum tat es dann sonst niemand? Natürlich gab es in Europa vielfach Widerstand, aber der richtete sich nicht gegen die Schoah. Niemand außer den Juden selbst hat für Juden die Waffen erhoben.

Immerhin, es gab Helfer. Sie versteckten Juden, versorgten sie mit Essen und retteten sie auf diese Weise. Auch diese Helfer nahmen ein hohes Risiko auf sich, sie wurden selbst verfolgt und vielfach von Landsleuten denunziert. Die deutsche Besatzung war so drückend, dass von den aus Treblinka Entkommenen nur etwa 50 die Befreiung erlebten: Die Flucht bedeutete weiterhin andauernde Angst vor dem Entdecktwerden, aber in polnischen Wäldern, Bauernhöfen und Wohnungen bestand immerhin eine Chance aufs Überleben, auch wenn sie nicht groß war.

Polen diskutiert seit einigen Jahren leidenschaftlich die eigene Rolle im Holocaust zwischen Rettern und Kollaborateuren. Diese Polarisierung zwischen zwei Extremen lässt freilich die vielen Grautöne zwischen Helden und Verbrechern außer Acht. Noch lassen sich Zahlen nur schätzen, aber am Ende werden weniger als ein Prozent der Polen eindeutig der einen oder der anderen Kategorie zugeordnet werden können. Ungeachtet dessen ist es eine Debatte über Hinsehen und Handeln, über Konformität und Passivität im Angesicht von Unrecht und Verfolgung, die letztlich von breiter gesellschaftlicher Relevanz ist.

In Deutschland wird und wurde eine Auseinandersetzung darüber nicht geführt. Die Täterschaft im Holocaust ist unumstritten, aber die Implikationen dieser Feststellung interessieren kaum. Was bedeutet es, wenn ein ganzes Volk zugesehen, zugestimmt und sogar mitgemacht hat, als ein Völkermord stattfand? Und warum ist weniger als ein Promille dieser Menschen dagegen aufgestanden oder hat den Juden zumindest im Stillen geholfen? Diese zentralen Fragen jeder historisch-politischen Bildung sind bisher überhaupt nicht gesellschaftlich gestellt, geschweige denn beantwortet worden, obwohl sie eine universelle Bedeutung haben: Wie verhalten wir uns bei Not, Unrecht und Verfolgung von anderen?

Anders als viele Millionen nichtjüdische Europäer mussten die Heldinnen und Helden von Treblinka im Angesicht der Vernichtung handeln - weil es sonst niemand tat. Weil es keine Hilfe gab, musste Samuel Willenberg einen verwundeten Kameraden erschießen, der nicht wieder in die Hände der Deutschen fallen wollte. Jede einzelne Entscheidung war eine über Leben und Tod, und sie mussten täglich gefällt werden.

Der Aufstand vom 2. August 1943 ist eine der größten und beeindruckendsten Geschichten des Holocaust. Hunderte Entschlüsse zu Widerstand und Flucht gingen ihm voran, und ungezählte mehr zur Selbstbehauptung und zum Durchhalten. Die Juden waren nicht bloß Objekte der Vernichtung, sie handelten als Individuen, als Subjekte ihrer eigenen Geschichte. Aber sie taten es alleine. Es lohnt, darüber nachzudenken. Nicht nur am 75. Jahrestag des Aufstands von Treblinka.

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Quelle:
SZ vom 03.08.2018
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