Außenansicht:Digitale 360-Grad-Ökonomie

MEINUNG

Henning Meyer, 40, ist Geschäftsführer der Social Europe Publishing & Consulting GmbH und Visiting Fellow am Centre for Business Research (CBR) der University of Cambridge.

(Foto: Henning Meyer/DG Corporate)

Europas Unternehmen geraten immer mehr ins Hintertreffen, die Industriepolitik muss endlich handeln. Es müssen Unternehmen entstehen, die die Technologietreiber in den USA und China herausfordern können.

Von Henning Meyer

Die technologische Revolution schürt bei vielen Menschen die Angst, überflüssig zu werden, auf andere wirkt sie befreiend. Munter wird darüber diskutiert, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt haben wird, inwiefern digitale und soziale Medien die Demokratie beeinflussen, ob Autos in naher Zukunft autonom fahren werden. Was jedoch oft vernachlässigt wird, ist eine genauere Analyse der Auswirkungen der Digitalisierung auf Unternehmen und die Struktur der Wirtschaft. Das ist ein großes Versäumnis. Unternehmen und politische Entscheidungsträger sollten sich besser auf eine digitale Zukunft vorbereiten. Was ist zu tun?

Zunächst ist ein Blick auf die Unternehmen hilfreich. Der digitale Wandel hat die Kosten vieler Produktionsprozesse gesenkt. Die Verbreitung datengetriebener IT-Anwendungen macht es möglich, immer mehr Tätigkeiten zu automatisieren. Das ist gut für die Firmen. Es gibt aber auch eine wenig beachtete Schattenseite: Durch den Einsatz neuer Techniken verschwinden Wettbewerbsvorteile, die bislang im betrieblichen Know-how bestimmter Tätigkeiten lagen. Solange der Zugang zur selben Technologie und zu Daten gegeben sind, können digitale Prozesse kopiert und repliziert werden. Eine der wichtigsten Markteinstiegsbarrieren - unternehmensspezifisches Fachwissen - wird somit durch die Digitalisierung abgebaut.

Diese Erosion von Wettbewerbsvorteilen geht einher mit einem radikalen Wandel traditioneller Märkte. In Zukunft wird es oftmals eine "IT plus X"-Struktur geben: Entscheidend für den Erfolg unternehmerischer Tätigkeit werden Kompetenzen in IT und einem weiteren Bereich sein. Auf dem Mobilitätsmarkt der Zukunft werden das beispielsweise Technologie und Maschinenbau sein. Traditionelle Automobilhersteller werden von Technologiekonzerne wie Apple und Google herausgefordert, die am autonomen Fahren arbeiten. Und dies ist nur ein Beispiel von vielen.

Schon heute wird deutlich, dass es einen Wettbewerb geben wird, wer schneller die fehlende Kernkompetenz aufbauen kann. Sind es Konzerne wie Volkswagen, die in Zukunft wohl mehr Softwareentwickler als Ingenieure einstellen werden, um ihren technologischen Nachteil aufzuholen? Oder sind es die Technologiegiganten, die das Autobauen als Kompetenz hinzugewinnen können? Die Technologieunternehmen könnten diese Leerstelle mühelos durch ihre enorme Finanzkraft kompensieren. Apple etwa verfügt über umgerechnet 210 Milliarden Euro Barreserven. Der gesamte Unternehmenswert von BMW liegt dagegen nur bei 48 Milliarden Dollar. Das zeigt die Kräfteverhältnisse.

Kaum ein Wirtschaftsbereich ist immun gegen digitale Angreifer

Bisher wird der Weg in den Mobilitätsmarkt der Zukunft durch Joint Ventures von Technologie- und Automobilunternehmen geebnet. Aus diesen Partnerschaften kann aber schnell Konkurrenz erwachsen. Für Deutschland und seine Nachbarn ist es ein Problem, dass es in Europa keine Unternehmen mit der nötigen IT-Kompetenz gibt. So ist Volkswagen jüngst eine Partnerschaft mit Microsoft eingegangen, weil kein deutsches Unternehmen die gewünschten IT-Dienstleistungen anbieten kann. Und Microsoft hat im Gegensatz zu anderen möglichen Partnern bisher kein eigenes Interesse an Mobilität angemeldet.

Das Resultat dieser Kooperation: Deutschland kommt immer weiter ins Hintertreffen. Im Rahmen der Partnerschaft entstehen zwei neue Forschungseinrichtungen, eine an der amerikanischen Westküste und eine in China. Durch die Umstellung auf Elektromotoren wird die Maschinenbaukomponente zukünftig weniger komplex, wohingegen die Bedeutung von IT weiter zunehmen wird. Diese Dynamik lässt also eher auf eine anhaltende Schwächung der Komponenten schließen, für die Deutschland zurzeit noch Wettbewerbsvorteile reklamieren kann.

Was lässt sich dagegen unternehmen? Europa braucht mehr als nur ein schleppend vorankommendes Projekt für ein deutsch-französisches Forschungsinstitut für künstliche Intelligenz. Gefragt sind europäische Unternehmen, die verhindern können, dass sich technologische Kernkompetenzen allein in den USA und in China konzentrieren. Es ist eine industriepolitische Aufgabe, mit Nachdruck dafür zu sorgen, dass solche Unternehmen entstehen können.

Die Lücke zu den IT-Vorreitern zu schließen, ist auch aus einem anderen Grund wichtig: Durch die Oligopol- und Monopolstrukturen in der Technologiebranche entstehen Netzwerk-Effekte, die über Marktgrenzen hinweg Wettbewerbsvorteile transportieren können. Für das Kartellrecht ist das ein Problem. Ein erster Konflikt in diesem Bereich ist die Auseinandersetzung zwischen der EU-Kommission und Google, die dazu führte, dass Google sich neue Konzepte überlegen muss, um die bisher betriebene Zwangsbündelung seiner eigenen Apps im mobilen Android-Betriebssystem aufzulösen. Ob durch den Konflikt tatsächlich verhindert wird, dass Googles marktdominierende Position in andere Bereiche transportiert werden kann, bleibt abzuwarten.

Wie anarchisch die Expansion von Technologieunternehmen aussehen kann, zeigt das Beispiel Amazon. Vom Online-Buchladen bis hin zum "Everything Store", der alles verkauft, und Logistikdienstleister kann man die Entwicklung noch leicht verstehen. Wie Amazon aber zum weltweit führenden Cloud-Computing-Dienstleister, Film- und Musikanbieter und Hersteller von sprachgesteuerten Lautsprechern wurde, erscheint weniger linear. Die Lektion ist: Kaum ein Wirtschaftsbereich ist immun vor diesen Entwicklungen. Letztendlich geht es um die Schaffung von Plattformen und Ökosystemen, die Nutzer binden und die Expansion in andere Bereiche erleichtern. Kurz gesagt, gibt es die Tendenz, dass vertikale Marktsegmentierungen verschwinden und durch die horizontale Ausbreitung von Plattformen ersetzt werden. Reduzierte Wettbewerbsvorteile, verschwommene Marktgrenzen, Vermischung verschiedener Branchen sowie Wettbewerb aus allen Richtungen - das sind die Kernmerkmale einer neuen digitalen 360-Grad-Ökonomie.

Die Analyse dieser Strukturen legt zugleich einige wesentliche Schwachpunkte der deutschen und europäischen Volkswirtschaft offen. Europa muss dringend einen Weg finden, um verpasste Zeit aufzuholen und wichtige IT-Kernkompetenzen auch hierzulande zu etablieren. Dazu bedarf es eines Schulterschlusses von Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft. Die 360-Grad-Ökonomie der Zukunft erzwingt einen ganzheitlichen Ansatz, und es ist dringend nötig, diesen schnell zu entwickeln.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: