Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Die letzte Bastion des Westens

Lesezeit: 4 min

Man muss sich darauf einstellen, dass Amerika nicht mehr Garant der liberalen Weltordnung ist.

Von Mark Leonard

Seit der Präsidentenwahl in Amerika ist unter Außenpolitikern in Berlin eine beständige Angst spürbar. Man bemerkt diese Angst immer dann, wenn es darum geht, wie sich Deutschland und Europa dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump gegenüber positionieren - wenn dieser die Nato infrage stellt, das Atomabkommen mit Iran attackiert, das Pariser Klimaabkommen verlässt oder wenn er eine egoistische Machtpolitik unter der Parole "Amerika zuerst" propagiert. Was, wenn sich Deutschland nun angesichts der illiberalen Politik Trumps abwendet von der amerikanischen Schutzmacht und vom Westen, um sich Russland zuzuwenden?

In den vergangenen Wochen hat sich eine Debatte unter Theoretikern und Praktikern der deutschen Außenpolitik entsponnen: Wo geht Deutschland hin, wenn das Land nicht mehr unbedingt auf Amerikazählen kann? Mir geht es in keinem Fall darum, für eine Äquidistanz zwischen dem Westen und Russland zu plädieren. Doch ich verfolge die Debatte nicht etwa aus Berlin, sondern aus London. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals ist nach dem Brexit und Trumps Wahlsieg klar, dass "der Westen", an den sich die meisten deutschen Außenpolitiker unter allen Umständen binden wollen, nicht mehr existiert. Ich befürchte deshalb, dass sich viele in Deutschland nach einem schönen Gestern sehnen, statt sich Gedanken über die enorme Herausforderung zu machen, vor der sie stehen.

Es stimmt, der neue Illiberalismus ist mitnichten ein rein amerikanisches oder britisches Phänomen. Doch in Amerika hat es die Alt-Right-Bewegung von Stephen Bannon ohne einen externen Schock - etwa eine Flüchtlingswelle - geschafft, das mächtigste Amt des Landes zu erobern. In Deutschland, wo in extrem kurzer Zeit so viele Flüchtlinge aufgenommen wurden, wie dies relativ zur Bevölkerung in den USA fünf Millionen Menschen entspräche, kommt eine fremdenfeindliche Partei auf 13 Prozent der Stimmen. Das ist besorgniserregend, hat aber eine vollkommen andere Dimension als bei Trump oder beim Brexit. Als deutscher Jude fällt mir immer wieder auf, wie feinsinnig und bedacht Deutschland mit seiner Geschichte umgeht. Deutschland hat nach 1945 einen Sonderweg der Vergangenheitsbewältigung eingeschlagen. Das Land ist nicht in Gefahr, sich auf anti-westliche Ab- oder Sonderwege zu begeben, es ist eher das letzte Land des Westens.

Viele deutsche Außenpolitiker haben auf die unverhohlene Infragestellung des Westens durch "Amerika zuerst" und Brexit, durch den Angriff auf Multilateralismus, Rechtsstaatlichkeit und gemeinsame Werte zwei Antworten: Erstens bleibt Trump nicht ewig;und zweitens: Trump ist nicht Amerika.

Europäer sollten notfalls auch politischen Druck auf Washington ausüben

Beides ist richtig. Doch verkennt, wer so argumentiert, die strukturellen Veränderungen, die über das Phänomen Donald Trump weit hinausgehen. Wir Europäer sind auf den amerikanischen Schutz mit jedem Jahrzehnt weniger angewiesen. Noch im Kalten Krieg schützten uns die Vereinigten Staaten vor dem atomaren Armageddon. In den 1990er-Jahren brauchten wir Amerika, um gegen ethnische Säuberungen in Bosnien vorzugehen und Kosovo zu verteidigen.

Nach der Jahrtausendwende jedoch änderte sich das, die USA zogen die Europäer in schlecht geplante Kriege hinein und lösten eine globale Finanzkrise mit schmerzhaften Folgen für die Euro-Zone. Washington zeigte zudem, dass seine Bereitschaft, Europa zu verteidigen, Grenzen hat: in Georgien, als 2008 ein von Russland angezettelter Krieg ausbrach, in Libyen, wo man es 2011 vorzog, "aus dem Hintergrund zu führen" und zuletzt in der Ukraine, wo es 2014 Deutschland und Frankreich überlassen blieb, den Friedensprozess voranzutreiben und die Hauptlast der Sanktionen zu tragen. Auch in Syrien sorgte sich Amerika wenig um Stabilisierung - und überließ es den Europäern, mit der darauf folgenden Flüchtlingskrise fertigzuwerden.

Gleichzeitig betonen die Europäer verstärkt, was sie von Amerika unterscheidet. Ein Handelsabkommen TTIP hätte weltweit Standards gesetzt, die gemeinsamen westlichen Werten entsprechen. Doch in der deutschen Debatte ging es eher um Chlorhühnchen als um Gemeinsamkeiten oder Handelsinteressen. Unter Trump geht die Trennung noch weiter: Eine Atlantikerin wie Angela Merkel, die mit George W. Bush 2003 in den Irak-Krieg gezogen wäre, stellt sich heute in ein Bierzelt und sagt, die Zeiten, in denen man sich auf Amerika verlassen könne, seien "ein Stück vorbei". Das zeigt, wie allein die Europäer in einer instabileren Welt sind - unabhängig davon, wer im Weißen Haus gerade regiert.

Hinzu kommt die Demografie. Nicht Trump, sondern Barack Obama war der erste amerikanische Präsident, der keine familiären Bande nach Europa aus den vergangenen 100 Jahren vorweisen konnte. Amerika wird immer weniger europäisch. "Nicht, dass Europa nicht schön gewesen wäre; alles war genau, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber es war einfach nicht meins", schrieb Obama einst über seine erste Reise nach Europa. Amerika und Europa werden füreinander noch sehr lange der jeweils einfachste Partner in Militär- und Sicherheitsfragen sein und wir sollten in keinem Fall in Antiamerikanismus verfallen. Trotzdem muss sich Deutschland jetzt auf eine gravierende Veränderung des Verhältnisses zu den USA einstellen.

Wir müssen als Europäer und gerade als Deutsche nicht nur positive, sondern auch negative Anreize setzen, also auch bereit sein, politischen Druck auszuüben und Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wenn Washington unsere Interessen und Werte bedroht. Peking und Moskau teilen nicht unsere Werte - da darf es keine Illusionen geben -, doch sie können uns helfen, das Iran-Abkommen, die Welthandelsorganisation oder das Pariser Klimaabkommen zu retten. Vor allem brauchen wir eine eigenständige europäische und strategische China-Politik - denn die wachsende Macht Chinas birgt auch für Europa neben vielen Chancen große Herausforderungen.

Bei allem dürfen wir nicht dem Westen den Rücken zukehren, sondern müssen seine Werte erhalten und gestalten. Deutschland hat nicht die Macht, die Vereinigten Staaten als Verteidiger der liberalen Ordnung abzulösen. Aber es hat die Macht, Europa zu schützen. Unser Kontinent ist zu einer Kantischen Insel der Kooperation und des Friedens geworden, die von der Renaissance des "Jeder gegen Jeden" rundherum bedroht wird. Es ist gefährlich für den gesamten Westen, wenn sich Deutschland da bedingungslos an Amerika bindet.

Aus dem Englischen von Jonathan Hackenbroich.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3737172
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.11.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.