Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Die EU schwächt die Demokratie

Lesezeit: 4 min

Eine Lehre aus der großen Akzeptanzkrise Europas: sich zurücknehmen.

Von Peter Conradi

"Mehr EU", so klingt es allenthalben. Eine Wirtschaftsregierung muss her, eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik (am besten unter deutscher Führung), damit es nicht zu einer weiteren Finanzkrise kommt. In Wirklichkeit droht der EU eine Akzeptanzkrise: Das Vertrauen in ihre Institutionen schwindet. Die Abstimmungen im Bundestag über die Hilfe für Griechenland und neuere Umfragen zeigen, dass nicht nur rechtspopulistische und nationalistische Parteien, sondern auch EU-freundliche Abgeordnete und Parteien die EU zunehmend kritisch sehen. Nur in wenigen Mitgliedstaaten stimmt derzeit bei Umfragen noch eine Mehrheit für die EU.

Wo versagt die EU? Während die USA Banken für ihr Fehlverhalten hart bestrafen, müssen in der EU nicht die Eigentümer und Vorstände für die Machenschaften ihrer Banken einstehen, sondern die Steuerzahler deren Rettung bezahlen. Seit Jahren fördern einige EU-Mitglieder den Steuerbetrug, indem sie Reichen und Unternehmen aus anderen Staaten Dumping-Steuer-Konditionen anbieten. Mit dieser Beihilfe zur Steuerhinterziehung werden andere EU-Mitgliedstaaten um die ihnen zustehenden Steuern betrogen. Anonyme, von keinem Parlament kontrollierte Institutionen wie die Troika erzwingen eine Austeritätspolitik mit Privatisierungen und harten Sparmaßnahmen zulasten der Lohn- und Rentenempfänger, zuletzt in Griechenland. Und nun das Problem der Flüchtlinge, bei dem die EU sich als uneinig, egoistisch und hilflos erweist.

Nach zwei schrecklichen Weltkriegen entstand in Europa ein Bündnis friedlicher Koexistenz und Zusammenarbeit: die Europäische Union, eine große politische Errungenschaft. Doch derzeit ist diese Union in Gefahr, ihr Scheitern ist nicht ausgeschlossen. Dazu hat die ständige Verletzung des Subsidiaritätsprinzips durch die EU beigetragen, etwa die Eingriffe in die deutsche Politik der Daseinsvorsorge und in die grundgesetzlich gesicherten Selbstverwaltungsrechte der Gemeinden. In den letzten Monaten die demütigende Behandlung Griechenlands, so als sei Griechenland ein EU-Protektorat.

In der EU regelt die höhere Ebene, was sie regeln will - gegen das Subsidiaritätsprinzip

Nach dem Subsidiaritätsprinzip soll jede politische Ebene regeln, was sie am besten regeln kann, ehe eine höhere Ebene entscheidet. In der EU entscheidet die höhere Ebene, was sie regeln will. Sie produziert eine Überfülle von Verordnungen und Richtlinien, die sich oft überschneiden, unnötig und meist unübersichtlich sind.

Den Konzernen ist der Zentralismus willkommen. Für sie ist es billiger, Kommission und Parlament mit ein paar Tausend Lobbyisten zu beeinflussen als in 28 Staaten auf die nationalen Parlamente einzuwirken. Die von EU-Regeln betroffenen Bürger und Bürgerinitiativen, Gemeinden und Regionen, kleine und mittelständische Unternehmen können sich keine europarechtlichen Spezialisten und Lobbyisten leisten. Leider denken auch viele linke Parteien paternalistisch und zentralistisch. Die SPD, so sagen Spötter, ist erst zufrieden, wenn die UN eine weltweit einheitliche Friedhofsordnung beschlossen haben.

Der EU-Zentralismus schwächt die Demokratie: Je weiter entfernt von den Betroffenen Entscheidungen fallen, um so geringer die Möglichkeit, auf diese Einfluss zu nehmen, um so schwächer die demokratische Legitimation. Wer behauptet, das Europa der Nationalstaaten müsse jetzt überwunden werden und es gelte nun, die nach- oder übernationale Demokratie zu konstituieren, gefährdet die Union. Die Bürger sehen ihre Identität zuerst nicht in der Union, sondern in ihren Nationalstaaten. Wer in dieser Situation pauschal ein "Mehr Europa" auf Kosten der Nationalstaaten fordert, weiß offensichtlich die Vielfalt Europas und das Selbstbestimmungsrecht nicht zu schätzen. Er riskiert damit die Zukunft der Union. Die EU ist nicht durch europäische Institutionen entstanden, sondern aus dem Willen der Nationalstaaten, nach zwei Weltkriegen ein friedliches Europa zu schaffen. Dies darf nicht durch selbstherrlichen EU-Zentralismus gefährdet werden.

Die Ausuferung der Richtlinien und Verordnungen müssen Parlament und Kommission selbst in Angriff nehmen. Dazu bedarf es keiner Verfassung, keiner neuen Verträge oder Institutionen, schon gar nicht einer Wirtschaftsregierung. Notwendig ist eine Diskussion über das, was die EU nicht regeln darf, und das, was sie regeln muss. Sind Parlament und Kommission willens, sich zurückzunehmen? Nicht "mehr Europa", sondern ein freiwilliges, dem judicial restraint des Obersten Gerichtshofs der USA vergleichbares political restraint der EU-Institutionen ist gefragt: Unterschiede hinnehmen, auch in der Finanz- und Steuerpolitik, statt um der Einheitlichkeit willen jetzt weitere Souveränitätsverluste der Staaten zu beschließen.

Zur Kritik an der EU trägt auch die klare Mehrheit in Parlament und Kommission für den Primat des Marktes bei. In der EU gilt: "Privat ist besser als Staat". Dieser Marktradikalismus führt dazu, dass die EU die Wasserversorgung privatisieren und den bewunderten kommunalen Wohnungsbau in Wien ("Gemeindebau") als wettbewerbsfeindlich untersagen will. Die Absicht der Kommission, über Abkommen wie TTIP, CETA und TISA die Rechte nationaler Parlamente abzubauen, läuft darauf hinaus, Demokratie durch Markwirtschaft zu ersetzen.

Zu häufig arrangiert sich die Minderheit im Parlament - vor allem Sozialdemokraten und Grüne - mit der konservativ-liberalen Mehrheit zu Kompromissen. So geht es bei den Wahlkämpfen zum Europaparlament nicht um eine bessere EU, sondern allein um mehr EU. Die wütende Reaktion einiger Mitglieder, leider auch Deutschlands, auf die Politik der derzeitigen griechischen Regierung lässt die Angst der Mehrheit vor einem Linksruck der südeuropäischen EU-Staaten erkennen.

Gelegentlich wird versucht, Kritik an der EU als nationalistisch, ja rechtslastig abzutun. Das ist bequem und kurzsichtig. Die EU selbst muss sich bewegen, wenn sie aus der Akzeptanzkrise herauskommen und stabile politische Mehrheiten gegen neue EU-feindliche Strömungen und Parteien gewinnen will. Das Parlament und die Kommission müssen das Subsidiaritätsprinzip und den Anspruch der Mitglieder auf ihre Souveränität respektieren und ihre Regelungswut zügeln. Die marktradikale parlamentarische Mehrheit und die sozialdemokratisch-grüne Minderheit im Parlament müssen erkennbar werden, damit das öffentliche Interesse an diesem Parlament und an den Wahlen wieder belebt und ein politischer Machtwechsel möglich wird. Wenn sich die EU-Institutionen nicht bewegen, wenn sie weitermachen wie bisher, ist die EU gefährdet.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2015
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