Außenansicht:Die Entscheidungshelfer

Frank Schweitzer

Frank Schweitzer, 59, ist Professor für Systemgestaltung an der ETH Zürich. Er befasst sich mit der Modellierung komplexer sozialer Systeme.

(Foto: ETH Zürich)

Wissenschaftler sollten sich öfter in öffentliche Debatten einmischen. Dazu muss die Diskussionskultur entschieden besser werden.

Von Frank Schweitzer

Sollten sich Wissenschaftler in der Politik und der Öffentlichkeit deutlicher zu Wort melden? Anlässe gäbe es genug. Gentechnik und künstliche Intelligenz verändern unser Leben, noch ehe wir die Konsequenzen dieser Entwicklungen verstanden haben. Das führt zu Debatten über ethische Probleme, welche eher von diffusen Ängsten als von faktenbasierten Argumenten befeuert werden und die Unsicherheit vergrößern, statt sie zu reduzieren.

Eindeutige Stellungnahmen von Wissenschaftlern wünscht sich die Öffentlichkeit auch zu anderen drängenden Problemen, etwa der Sicherheit von atomaren Endlagern oder der Begrenzung des Klimawandels. Als Vorbild dient oftmals das sogenannte Russell-Einstein-Manifest, welches 1955 von zehn Nobelpreisträgern angesichts der Wasserstoffbomben-Tests der USA veröffentlicht wurde. Die Unterzeichner forderten eine nukleare Abrüstung und zur Lösung von Konflikten eine Rückbesinnung auf die Menschlichkeit.

Fehlen uns heute solche deutlichen Stellungnahmen? Fehlen uns mutige Wissenschaftler, die mit ihrer Reputation diesen Manifesten Gewicht verleihen? So einfach ist die Sache leider nicht, was die Diskussion umso lehrreicher macht. Es geht im Kern um die Frage, ob diese Stellungnahmen ihr Zielpublikum noch erreichen.

Um Gehör zu finden, sollten Wissenschaftler mit einer Stimme sprechen. Davon sind wir heute weiter denn je entfernt. Bereits 1955 konnten sich, aufgrund subtiler politischer Differenzen, nicht alle Meinungsführer auf ein gemeinsames Manifest einigen. So wurde nur wenige Tage nach dem Russell-Einstein-Manifest auf der Nobelpreisträger-Tagung in Lindau die sogenannte Mainauer Deklaration veröffentlicht, die sich ebenfalls gegen die Nutzung von Nuklearwaffen aussprach. Unterzeichnet wurde sie von 18 Nobelpreisträgern, innerhalb eines Jahres gab es 52 Unterzeichner.

In ihrer Grundaussage identisch, stand diese Mainauer Deklaration trotz breiter Unterstützung stets im Schatten des Russell-Einstein-Manifests. Der entscheidende Grund dafür liegt in der Rolle der Medien. Das Russell-Einstein-Manifest wurde öffentlichkeitswirksam in einer großen Pressekonferenz in London vorgestellt, an der neben den Printmedien auch Rundfunk und Fernsehen zugegen waren. Damit konnte die Weltöffentlichkeit des Jahres 1955 auf einen Schlag erreicht werden. Ein Philanthrop unterstützte im Geiste des Manifestes im kanadischen Pugwash eine Serie von Konferenzen über Wissenschaft und internationale Probleme. Diese wiederum hatten großen Anteil am Zustandekommen des Atomwaffensperrvertrags von 1963, was durch die Verleihung des Friedensnobelpreises 1995 gewürdigt wurde - eine Erfolgsgeschichte. Bedingt wurde sie weniger durch Form, Inhalt oder Ziel - auch in Mainau äußern sich regelmäßig Nobelpreisträger, als vielmehr durch die mediale Verstärkung, die dem Appell der einen Gehör verschaffte, während der Appell der anderen vergessen wurde.

Es ist ein kleiner Kreis der Immergleichen, der sich zu Talkshows einladen lässt

Dass nicht der Inhalt, sondern die Aufmerksamkeit über den Erfolg entscheidet, kennen wir heute aus den sozialen Medien. Wissenschaftler stehen dieser Art der Popularisierung ihrer Forschung nach wie vor skeptisch gegenüber, zu Recht. Öffentliche Stellungnahmen verlangen nach klaren und eindeutigen Botschaften. Aber nicht jede Art von Forschung lässt sich auf diese Weise versimplifizieren. Das gilt besonders für komplexe Probleme, wie den Klimawandel. Schon die Daten sind mit Unsicherheiten behaftet, viel mehr noch die Modelle, die daraus Vorhersagen generieren sollen. Wissenschaftler sind sich über die Probleme im Klaren, aber ihre Lösungsvorschläge weichen oft stark voneinander ab. Mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen, ist heute aufgrund der Komplexität der Probleme, aber auch wegen der Zehntausendmal größeren Zahl von Wissenschaftlern im Vergleich zu 1955 noch viel schwieriger.

Dazu kommt das Hauptproblem: Welcher Öffentlichkeit ist eine solche differenzierte Diskussion noch zuzumuten? Was sich nicht in 280 Zeichen wiedergeben lässt, übersteigt schnell die Aufmerksamkeit der Menschen, von einer kritischen Abwägung der Meinungen ganz zu schweigen. Auch Politiker sind vor allem an Argumenten interessiert, die ihre Entscheidungen stützen, und nicht an den Details, die diese infrage stellen könnten. Viele Fakten liegen auf dem Tisch. Es geht nicht darum, ob sie jemand ausspricht, sondern ob sich jemand findet, der ihnen Gehör schenkt.

Und schließlich: Wie werden wissenschaftliche Meinungen aufgenommen, gerade wenn sie eigenen Ansichten widersprechen? Hier hat sich ein radikaler Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung vollzogen. Wissenschaftler sind nicht mehr Autoritäten, die mühsam gewonnene Fakten präsentieren. Ihren Aussagen kann man, wie in der Religion, heute glauben oder auch nicht, sofern ihre Ansichten nicht ohnehin in der Kakofonie der Meinungen untergehen. Denn je komplexer die Probleme sind , desto größer ist die Zahl derjenigen, die es besser wissen. Hasskommentare und Beleidigungen in Diskussionsforen als Reaktion auf wissenschaftliche Meinungsäußerungen sind zur Regel geworden. Wer erfolgreich in der Wissenschaft tätig ist, wird sich überlegen, ob er seine Energie in eine solche Art von Auseinandersetzung oder doch besser in seine Forschung investiert.

So ist es am Ende oftmals ein kleiner Kreis der Immergleichen, der sich zu Interviews und Talkshows einladen lässt und genau darum den Journalisten bekannt ist - ein sich selbst verstärkender Prozess. Damit besteht die Gefahr, dass Meinungen, die gar nicht repräsentativ sind, als maßgebliche Ansichten "der" Wissenschaft wahrgenommen werden. Gerade Warner und Mahner nehmen einen moralischen Vorteil in Anspruch, der keineswegs immer durch wissenschaftliche Fakten legitimiert ist. Die Frage "Cui bono - wem nützt es?" gilt auch für die öffentlichen Stellungnahmen von Wissenschaftlern.

Fazit: Manifeste und Deklarationen von Wissenschaftlern sind wichtig, weil sie der gesellschaftlichen Meinungsbildung dienen. Gleichzeitig sind sie nutzlos, wenn die Bildung dieser Meinung nicht mehr gewährleistet ist, weil die mediale Aufmerksamkeit das Meinungsspektrum einengt, Argumente bis zur Sinnlosigkeit vereinfacht werden, wissenschaftliche Fakten zu Ansichtssachen degradiert und gegenteilige Meinungen moralisch oder politisch diffamiert werden. Wer sich mehr Beteiligung von Wissenschaftlern an der öffentlichen Diskussion wünscht, sollte auch die gegenwärtige Diskussionskultur überprüfen.

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