Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Der vorletzte Wille

Dürfen Menschen, die nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, als Probanden eingesetzt werden?

Von Jochen Taupitz

Derzeit wird darum gerungen, ob Erwachsene als Probanden in der medizinischen Forschung herangezogen werden können - selbst wenn sie nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind. Es geht dabei um Forschung, die dem Betroffenen voraussichtlich nicht nützt. Man kann aber erwarten, dass sie für die Gruppe derjenigen Patienten mit einem direkten Nutzen verbunden ist, die an der gleichen Krankheit leiden wie der Proband. Von manchen wird solche Forschung als menschenunwürdige Instrumentalisierung Wehrloser abgelehnt, weil der Proband für Zwecke anderer in Anspruch genommen werde.

In der Tat steht die Medizin vor dem Dilemma, dass der Proband die erforderliche Einwilligung selbst nicht rechtswirksam erteilen kann, etwa weil er bewusstlos ist oder an einer Störung der Geistestätigkeit leidet. Das gängige Beispiel ist der an Demenz erkrankte Mensch. Das ist bei anderen medizinischen Maßnahmen, etwa einer lebenserhaltenden Therapie, in entsprechenden Situationen aber nicht anders. Gerade für solche Situationen wird ein Stellvertreter ernannt, sodass der Betroffene dennoch am Rechtsverkehr teilnehmen kann. Der Betreuer oder Bevollmächtigte kann - ausgerichtet am individuellen Wohl und den Wünschen des Betroffenen - die Einwilligung erteilen und den Vertrag mit dem Arzt schließen. Ein gesetzliches Verbot, an der Forschung teilzunehmen, beraubt dagegen den Betroffenen seines Rechts auf Teilnahme an der Forschung. Und zwar ganz pauschal.

Unbestritten ist, dass der Betroffene so weit möglich in den Entscheidungsprozess einzubeziehen ist. Er muss gemäß seinen Fähigkeiten aufgeklärt werden, und sein irgendwie geäußerter Wunsch, nicht an der Studie teilzunehmen, muss beachtet werden. Damit wird sein Selbstbestimmungsrecht so weit wie möglich gewahrt. Für den Schutz Nichteinwilligungsfähiger hat zudem neben der Bundesoberbehörde die Ethikkommission zu sorgen - bezogen auf die jeweilige Studie und das einbezogene Patientenkollektiv. Beide Institutionen müssen der Studie zustimmen, bevor sie durchgeführt werden darf.

Das Grundgesetz steht derartigen Studien nicht grundsätzlich entgegen. Ihm kann kein ausschließlich eigennützig ausgerichtetes Menschenbild entnommen werden, dem jeglicher Gedanke an Solidarität mit gleichermaßen Betroffenen fremd ist. Ganz im Gegenteil hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt hervorgehoben, dass das Grundgesetz die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden habe. Der Eigennutzen für den Betroffenen ist also keineswegs das Maß aller Dinge. Zu bedenken ist auch, dass keine medizinische Maßnahme einen unmittelbaren Nutzen garantieren kann. Eine in guter Absicht vorgenommene Medikamentenvergabe kann dem Wohl des Patienten im Ergebnis sogar zuwiderlaufen, ohne dass man sie deshalb für verfassungswidrig hielte.

Laut EU-Recht darf auch an Minderjährigen geforscht werden

Im Übrigen wäre es kaum verständlich, wenn man Forschung bei akut lebensgefährlichen Krankheiten per se verbietet, weil sie dem konkret Betroffenen ja ohnehin nicht mehr nützt. Gleichzeitig ließe man sie zu, wenn die Betroffenen möglicherweise noch selbst von ihr profitieren können, weil sie nach ihrem Alter und dem erwarteten Verlauf ihrer Krankheit noch eine ausreichend hohe Lebenserwartung haben. Eine solche Auffassung hätte die absurde Konsequenz, dass Erkrankungen umso mehr von jeglicher Verbesserung in der Behandlung ausgeschlossen wären, je lebensbedrohlicher sie sind.

Unbestritten ist, dass Forschung mit Nichteinwilligungsfähigen allenfalls als letztes Mittel erlaubt sein kann. Also dann, wenn es unmöglich ist, sie mit Einwilligungsfähigen durchzuführen. Dieses Prinzip der Subsidiarität verbietet allerdings nicht die Durchführung von Studien, in denen ein Vergleich zwischen Nichteinwilligungsfähigen und Einwilligungsfähigen stattfindet. Ein derartiger Vergleich ist häufig notwendig, um die besonderen Wirkungen und Nebenwirkungen eines Arzneimittels herauszufinden. Natürlich müssen ausreichende Studien mit ausschließlich Einwilligungsfähigen vorangegangen sein, aus denen sich hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine Einbeziehung nun auch von Nichteinwilligungsfähigen vertretbar ist und die Studienergebnisse dieser Gruppe voraussichtlich nützen werden. Dies muss in einem Prüfplan explizit dargelegt werden.

Die sogenannten gruppennützige Forschung mit Nichteinwilligungsfähigen wird zudem allenfalls dann für zulässig gehalten, wenn sie lediglich mit einem minimalen Risiko oder einer minimalen Belastung für den Betroffenen verbunden ist. Es geht um Messen, Wiegen, Auswerten bereits gewonnener Blutproben oder um die zusätzliche Entnahme einer geringen Menge Blut aus einem schon vorhandenen Venenzugang. Wenn selbst derartige minimale Belastungen oder minimale Risiken, denen ein erheblicher Nutzen für andere Patienten gegenübersteht, als Verstoß gegen die Menschenwürde bezeichnet werden, dann beruht dies eher auf Prinzipienreiterei als auf den Grundlagen unserer Verfassung.

Schließlich: Wenn gruppennützige Forschung selbst dann eine Instrumentalisierung Wehrloser darstellt, wenn der Vertreter des Betroffenen eingewilligt hat und die Schutzkriterien erfüllt sind: Wie kann es dann sein, dass das EU-Recht und das deutsche Arzneimittelrecht solche Forschung mit Minderjährigen erlauben, ohne dass es einen Aufschrei der Empörung gibt? Ist die Menschenwürde Minderjähriger weniger wert als diejenige Volljähriger? Und wenn es bezogen auf Minderjährige heißt, dass Therapien zur Behandlung von Kinderkrankheiten in bestimmtem Ausmaß nur an Kindern erforscht werden können, dann ist nicht erklärlich, warum Gleiches nicht auch bei nicht einwilligungsfähigen Volljährigen gelten soll, bei denen sich zum Beispiel der Stoffwechsel krankheitsbedingt von einwilligungsfähigen Personen unterscheidet. Wann dies tatsächlich der Fall ist, ist eine medizinische Frage, die für die Forschung mit Nichteinwilligungsfähigen entscheidend ist.

Die Ethikkommissionen müssen dies - und die zahlreichen weiteren Schutzkriterien - bereits seit Jahren bezogen auf gruppennützige Forschung mit Minderjährigen prüfen und sie sind sich ihrer insoweit bestehenden hohen Verantwortung bewusst. Der Gesetzgeber sollte ihnen zutrauen, auch für Volljährige verantwortungsvoll zu entscheiden. Das ist eine viel sachgerechtere Lösung als ein pauschales Verbot seitens des Gesetzgebers.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3174203
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.09.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.